Kurz & knapp
- Gewohnheiten entstehen nicht durch große Vorsätze, sondern durch wiederholte, konkrete Handlungen im Alltag, die automatisiert werden.
- Allein auf Motivation und Willenskraft zu setzen führt selten zu dauerhaften Verhaltensänderungen, weil alte Muster tief im Gehirn verankert sind.
- Effektive Gewohnheitsänderung setzt darauf, erwünschte Handlungen mit klaren Kontexten zu verknüpfen, statt sich auf Verzicht zu fokussieren.
- Alte Gewohnheiten lassen sich durch gezielte Gestaltung der Umgebung und kleine Barrieren für unerwünschtes Verhalten beeinflussen.
- Positives Erleben und intrinsische Belohnung erleichtern die Automatisierung neuer Routinen stärker als äußere Kontrolle oder Druck.
- Der Aufbau stabiler Gewohnheiten braucht Zeit und regelmäßige Wiederholung, und einzelne Rückschläge gehören zum normalen Prozess dazu.
Inhaltsverzeichnis
- Der Fehler im System: Warum „Wollen“ allein nicht reicht
- Der Zeitfaktor: Wie lange Gewohnheiten wirklich brauchen
- Die Anatomie der Gewohnheit: Initiierung und Ausführung
- Strategische Automatisierung: Wenn-Dann-Pläne
- Alte Gewohnheiten brechen: Das Prinzip der Reibung
- Identität: Wer willst du sein?
- Digitale Unterstützung & Interventionen
- Warum Rückschläge normal sind
- Deine Checkliste für nachhaltige Gewohnheiten
Jedes Jahr im Januar beobachten wir dasselbe Phänomen: Die Fitnessstudios sind überfüllt, die Gemüseabteilungen sind leergekauft und die Motivation scheint grenzenlos zu sein. Ein neues Jahr fühlt sich wie ein Neustart an. Endlich ist Zeit für Veränderung. Entsprechend nehmen sich viele Menschen für 2026 ganz konkrete Dinge vor. Mehr als die Hälfte möchte Geld sparen, rund jede zweite Person möchte sich gesünder ernähren oder mehr Sport treiben. Auch Abnehmen, mehr Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen oder weniger Zeit in den sozialen Medien zu verbringen, stehen weit oben auf der Liste der guten Vorsätze1Rudnicka, J. Häufigste gute Vorsätze für das Jahr 2026 in Deutschland. Statista GmbH. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/952182/umfrage/umfrage-in-deutschland-zu-den-beliebtesten-neujahrsvorsaetzen/.. Die meisten Neujahrsvorsätze drehen sich also um Gesundheit, Wohlbefinden und einen bewussteren Lebensstil.
Und trotzdem ist das Ergebnis jedes Jahr ähnlich ernüchternd. Die Mehrheit gibt ihre Vorsätze bereits innerhalb eines Monats wieder auf2Nier, H. Wie lang die guten Vorsätze halten. Statista GmbH. https://de.statista.com/infografik/20354/zeitraum-den-die-befragten-ihre-guten-vorsaetze-einhalten/.. Nicht, weil ihnen ihre Ziele egal wären, sondern weil sich die Umsetzung im Alltag als deutlich schwieriger erweist als die Entscheidung am Silvesterabend.
Letzte Aktualisierung am 28.12.2025 / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API
Das eigentliche Problem liegt dabei jedoch selten an mangelnder Disziplin. Viel häufiger liegt es daran, wie wir Veränderungen angehen. Wir setzen uns große, ambitionierte Ziele, verlassen uns auf unsere Motivation und hoffen, dass unsere Willenskraft uns dauerhaft durch den Alltag trägt. Doch unser Gehirn ist nicht darauf ausgelegt, radikale Veränderungen allein durch bewusste Selbstkontrolle dauerhaft aufrechtzuerhalten. Alte Gewohnheiten sind tief verankert, effizient und automatisiert. Neue Verhaltensweisen kosten dagegen Energie und Aufmerksamkeit. Kurz gesagt erwarten wir langfristige Veränderung von einem System, das auf Energiesparen programmiert ist.
Genau hier setzt dieser Artikel an. Anstatt dir die nächste Liste mit guten Vorsätzen zu präsentieren, geht es um das, was langfristig wirklich funktioniert: das gezielte Verändern und Aufbauen von Gewohnheiten. Auf Basis von Erkenntnissen aus der Gewohnheitsforschung erfährst du, warum gute Vorsätze so häufig scheitern und wie du Schritt für Schritt gesunde Routinen etablierst, die sich realistisch in deinen Alltag integrieren lassen und auch dann funktionieren, wenn die Motivation nachlässt.
Der Fehler im System: Warum „Wollen“ allein nicht reicht
Um zu verstehen, warum gute Vorsätze so häufig scheitern, müssen wir einen Blick unter die Motorhaube unseres Gehirns werfen. Die Forschung zur Verhaltenssteuerung unterscheidet dabei zwei grundlegende Systeme, die parallel existieren und unser Handeln auf unterschiedliche Weise beeinflussen3Verplanken, B., & Orbell, S. (2022). Attitudes, Habits, and Behavior Change. Annual review of psychology, 73, 327–352. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-020821-011744. 4Wood, W., & Neal, D. T. (2007). A new look at habits and the habit-goal interface. Psychological review, 114(4), 843–863. https://doi.org/10.1037/0033-295X.114.4.843..
Das intentionale System: Wenn Ziele steuern
Das intentionale oder zielgerichtete System ist insbesondere dann aktiv, wenn wir bewusst Entscheidungen treffen. Es ist eng mit dem präfrontalen Kortex verbunden und ermöglicht es uns, für die Zukunft zu planen, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und unser Handeln an langfristigen Zielen auszurichten. Typische Gedanken aus diesem System sind beispielsweise: „Wenn ich jetzt Sport mache, bin ich in 20 Jahren gesünder“ oder „Eigentlich sollte ich heute gesünder essen“.
Das Problem ist jedoch nicht die Intelligenz dieses Systems, sondern seine begrenzte Belastbarkeit. Zielgerichtetes Denken ist langsam, energiehungrig und störanfällig. Stress, Müdigkeit oder Ablenkung können seine Leistungsfähigkeit deutlich einschränken. Im Alltag bedeutet das: Je voller unser Kopf ist, desto schwerer fällt es uns, bewusst gegen eingespielte Muster zu handeln.
Das habituelle System: Wenn der Autopilot übernimmt
Parallel dazu existiert ein zweites System, das unser Verhalten weitgehend automatisch steuert. Dieses sog. habituelle System stützt sich auf tiefere Hirnregionen wie die Basalganglien und folgt einem einfachen Lernprinzip: Wiederholungen verknüpfen bestimmte Situationen mit bestimmten Handlungen. Orte, Tageszeiten, vorherige Handlungen oder emotionale Zustände werden so zu Auslösern, auf die das Gehirn schnell und effizient reagiert. In der Gesundheitspsychologie wird dieses Prinzip als „cue-contingent automaticity“ beschrieben: Bestimmte Auslöser können eine Handlung automatisch anstoßen, ohne dass dafür jedes Mal eine bewusste Entscheidung nötig ist5Orbell, S., & Verplanken, B. (2010). The automatic component of habit in health behavior: habit as cue-contingent automaticity. Health psychology : official journal of the Division of Health Psychology, American Psychological Association, 29(4), 374–383. https://doi.org/10.1037/a0019596..
Dieses System ist nicht „dumm“ im umgangssprachlichen Sinne, aber es ist weitgehend „blind“ für aktuelle Ziele. Es fragt nicht nach dem „Warum“, sondern führt aus, was sich in der Vergangenheit in einem bestimmten Kontext bewährt hat. Genau darin liegt seine Stärke. Es arbeitet schnell, spart Energie und entlastet das bewusste Denken. Deshalb läuft ein großer Teil unseres Alltagsverhaltens auf Autopilot.
Warum wir unsere Gewohnheiten überschätzen
Interessant ist, dass wir die Funktionsweise dieses Autopiloten häufig falsch einschätzen, vor allem bei uns selbst. Menschen zeigen viel Verständnis, wenn andere aus Gewohnheit einen Fehler machen („Das kann halt mal passieren“). Gleichzeitig neigen wir dazu, unsere eigenen Routinen im Nachhinein als bewusste Entscheidungen zu interpretieren, selbst wenn sie objektiv stark vom Kontext gesteuert sind.
Forschungsarbeiten zeigen, dass Gewohnheiten subjektiv oft als zielgesteuert erlebt werden, obwohl sie bei der Ausführung kaum noch vom aktuellen Ziel abhängen. Menschen haben das Gefühl, sich „entschieden“ zu haben, obwohl in Wirklichkeit vertraute Auslöser den Ausschlag gegeben haben6Mazar, A., & Wood, W. (2018). Defining habit in psychology: Theory, mechanisms, change, and contexts. In B. Verplanken (Ed.), The psychology of habit (pp. 13–29). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-97529-0_2.. Dieser Wahrnehmungsfehler wurde in experimentellen Studien bestätigt: Insbesondere bei starken Gewohnheiten stimmen die subjektiv angenommenen Gründe für ein Verhalten häufig nicht mit den tatsächlichen Auslösern überein, die hauptsächlich im Kontext liegen7Neal, D. T., Wood, W., Labrecque, J. S., & Lally, P. (2012). How do habits guide behavior? Perceived and actual triggers of habits in daily life. Journal of Experimental Social Psychology, 48(2), 492–498. https://doi.org/10.1016/j.jesp.2011.10.011..
Genau das ist es, was Gewohnheiten so tückisch macht: Der Autopilot fühlt sich wie Absicht an, obwohl es sich dabei oft lediglich um eine gut gelernte Reaktion auf vertraute Situationen handelt.
Wie sich der Autopilot gezielt nutzen lässt
Die gute Nachricht ist: Derselbe Mechanismus, der gute Vorsätze scheitern lässt, kann gezielt für Verhaltensänderungen genutzt werden. Meta-Analysen zeigen am Beispiel körperlicher Aktivität, dass Interventionen, die auf Gewohnheitsbildung und stabile Auslöser setzen, die Habitstärke – also die Automatisierung eines Verhaltens – signifikant erhöhen. Entscheidend ist dabei weniger eine Steigerung der Motivation als vielmehr die wiederholte Kopplung von Auslöser und Handlung8Ma, H., Wang, A., Pei, R., & Piao, M. (2023). Effects of habit formation interventions on physical activity habit strength: meta-analysis and meta-regression. The international journal of behavioral nutrition and physical activity, 20(1), 109. https://doi.org/10.1186/s12966-023-01493-3.. Diese Logik lässt sich auf viele Alltagsgewohnheiten übertragen (z. B. Essroutinen, Mediennutzung, Abendrituale).
Warum Anreize allein nicht reichen
Ergänzend zeigen Übersichtsarbeiten zur langfristigen Verhaltensänderung, dass kurzfristige Anreize zwar dabei helfen können, ein neues Verhalten zu beginnen, ihre Wirkung jedoch meist nachlässt, sobald sie wegfallen. Studien zu finanziellen Anreizen legen nahe, dass dieses Nachlassen besonders dann auftritt, wenn das Verhalten primär durch externe Belohnungen gesteuert wird und nicht mit persönlichen Werten oder Zielen verknüpft ist. In diesen Fällen fehlt nach dem Wegfall des Anreizes die autonome Motivation, das Verhalten aufrechtzuerhalten9Kullgren, J. T., Williams, G. C., Resnicow, K., An, L. C., Rothberg, A., Volpp, K. G., & Heisler, M. (2016). The Promise of Tailoring Incentives for Healthy Behaviors. International journal of workplace health management, 9(1), 2–16. https://doi.org/10.1108/IJWHM-12-2014-0060.. Ohne die gezielte Verknüpfung von Verhalten und Kontext kehren Menschen häufig zu ihren alten Mustern zurück. Dauerhafte Veränderung entsteht in erster Linie dann, wenn während der motivierten Anfangsphase stabile Gewohnheiten aufgebaut werden, die auch ohne bewusste Zielsteuerung weiterlaufen.10Winkler-Schor, S., & Brauer, M. (2025). What Happens When Payments End? Fostering Long-Term Behavior Change With Financial Incentives. Perspectives on psychological science : a journal of the Association for Psychological Science, 20(5), 925–940. https://doi.org/10.1177/17456916241247152.
Start ist nicht gleich Stabilität
Genau an dieser Stelle trifft die Forschung eine wichtige Unterscheidung: Verhalten zu starten ist nicht dasselbe wie Verhalten aufrechtzuerhalten. Viele Ansätze sind gut darin, Menschen in eine neue Richtung zu bringen – scheitern aber daran, das Verhalten im Alltag zu stabilisieren. Für die langfristige Aufrechterhaltung („Maintenance“) greifen oft andere Mechanismen als beim Start: weniger reine Ziel- und Motivationslogik, mehr Automatisierung, Identität und passgenaue Alltagsstrukturen.11Simpson, A., Beauchamp, M. R., Dimmock, J., Willis, C., & Jackson, B. (2025). Health behaviour change: Theories, progress, and recommendations for the next generation of physical activity research. Psychology of sport and exercise, 80, 102918. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2025.102918.
Das Neujahrsparadoxon
Wenn wir uns Vorsätze fassen, sind wir i. d. R. entspannt, motiviert und optimistisch. In diesem Moment hat das intentionale System die Kontrolle. Wir machen Pläne, formulieren Ziele und Veränderungen wirken realistisch. Im echten Alltag sieht die Situation jedoch oft anders aus. Wenn der Chef nervt, die Kinder laut sind oder wir einfach erschöpft nach Hause kommen, sinken die verfügbaren kognitiven Ressourcen. Das Gehirn schaltet dann auf Effizienz um und überlässt dem habituellen System die Steuerung.
Dieser Prozess lässt sich vereinfacht als Abfolge aus Auslöser, automatischem Impuls und möglicher Handlung darstellen:

Gewohnheiten erzeugen dabei zunächst oft einen automatischen Handlungsimpuls. Ob sich daraus tatsächlich ein Verhalten entwickelt, hängt davon ab, ob im selben Moment stärkere, konkurrierende Impulse – etwa durch bewusste Ziele oder aktive Selbstkontrolle – dagegenstehen12Gardner, B., Rebar, A. L., de Wit, S., & Lally, P. (2024). What is habit and how can it be used to change real-world behaviour? Narrowing the theory–reality gap. Social and Personality Psychology Compass, 18(6), e12975. https://doi.org/10.1111/spc3.12975.. Wenn dort noch keine gesunde Gewohnheit verankert ist, greift das Gehirn auf das zurück, was es kennt. Alte Muster wie Couch, Chips oder endloses Scrollen am Handy setzen sich durch – nicht aus mangelndem Willen, sondern weil sie schneller verfügbar sind als neue Ziele.
Wichtig: Ziele können durchaus als Gegenimpuls wirken. Ihr Einfluss ist jedoch meist nur von kurzer Dauer und davon abhängig, ob sie im entscheidenden Moment präsent, konkret und nicht durch Stress oder Erschöpfung geschwächt sind.
Die bittere Wahrheit: Gewohnheiten sind zielunabhängig
Ein zentraler Befund der aktuellen Gewohnheitsforschung erklärt, warum Rückfälle so hartnäckig sind. Einmal etablierte Gewohnheiten werden weitgehend unabhängig von aktuellen Zielen ausgelöst und allein durch den passenden Kontext aktiviert13Wood, W., Mazar, A., & Neal, D. T. (2022). Habits and Goals in Human Behavior: Separate but Interacting Systems. Perspectives on psychological science : a journal of the Association for Psychological Science, 17(2), 590–605. https://doi.org/10.1177/1745691621994226. 14Wood, W. (2017). Habit in personality and social psychology. Personality and Social Psychology Review, 21(4), 389–403. https://doi.org/10.1177/1088868317720362.. Gerade bei fest etablierten Routinen hat das aktuelle Ziel im entscheidenden Moment oft wenig Einfluss, während es bei neuen oder schwachen Gewohnheiten eher noch „dazwischenfunken“ kann.
Betrittst du abends den vertrauten Kontext „Sofa“, kann die Gewohnheit „Chips essen“ automatisch ausgelöst werden, selbst wenn dein bewusstes Ziel gerade lautet, abzunehmen. Die Gewohnheit hat keinen direkten Zugriff auf deine neuen Ziele. Sie reagiert auf den Reiz, nicht auf die Intention. Genau deshalb lassen sich Gewohnheiten nicht einfach wegdenken oder durch gute Argumente ausschalten.
Was folgt daraus für die Praxis? Eine dauerhafte Verhaltensänderung entsteht nicht durch reines Wollen. Alte Gewohnheiten müssen nicht unterdrückt, sondern gezielt ersetzt werden. Erst wenn im gleichen Kontext eine neue, konkurrenzfähige Handlung etabliert wird, die den bisherigen Automatismus übernimmt, kann sich das Verhalten nachhaltig verändern. Gewohnheitsbildung bedeutet daher nicht mehr Willenskraft, sondern ein klügeres Design des eigenen Alltags.
Die Start-Strategie: Framing ist alles
Bevor wir überhaupt anfangen, eine neue Gewohnheit aufzubauen, entscheidet sich ein großer Teil des Erfolgs bereits bei der Zielformulierung. Nicht jedes Ziel wird vom Gehirn gleich gut verarbeitet. Wie wir ein Vorhaben sprachlich und gedanklich formulieren („framen“), beeinflusst maßgeblich, wie leicht es sich im Alltag umsetzen lässt.
Eine der bislang größten Studien zu Neujahrsvorsätzen begleitete über 1.000 Teilnehmende ein Jahr lang und zeigte, dass die Erfolgsraten abhängig davon sind, wie Ziele formuliert werden.15Oscarsson, M., Carlbring, P., Andersson, G., & Rozental, A. (2020). A large-scale experiment on New Year's resolutions: Approach-oriented goals are more successful than avoidance-oriented goals. PloS one, 15(12), e0234097. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0234097.
Vermeidungsziele: Dauerhafte Selbstkontrolle
Vermeidungsziele sind darauf ausgerichtet, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen. Typische Beispiele sind: „Ich höre auf, Süßigkeiten zu essen“ oder „Ich will nicht mehr so faul sein“. Solche Ziele wirken auf den ersten Blick logisch und konsequent.
Das Problem liegt jedoch in der Umsetzung. Vermeidung erfordert ständige Wachsamkeit. Das Gehirn muss fortlaufend prüfen, ob ein bestimmtes Verhalten gerade unterdrückt werden soll. Jedes Mal, wenn der Gedanke an Süßigkeiten, das Sofa oder das Handy auftaucht, ist ein aktives inneres „Nein“ notwendig. Diese Form der Inhibition ist besonders anfällig für Stress, Müdigkeit oder emotionale Belastung und kostet kognitive Energie. Entsprechend zeigte sich, dass Vermeidungsziele deutlich seltener langfristig erfolgreich waren. In der Studie erreichten sie eine Erfolgsquote von rund 47 %.
Annäherungsziele: Handlung statt Verzicht
Annäherungsziele sind anders aufgebaut. Sie beschreiben ein konkretes Verhalten, das aktiv ausgeführt werden soll. Beispiele dafür sind: „Ich esse nachmittags einen Apfel“ oder „Ich gehe dreimal pro Woche zum Sport“.
Der entscheidende Vorteil liegt darin, dass hier eine Handlung im Mittelpunkt steht. Das Gehirn kann konkrete Aktionen deutlich leichter mit bestimmten Auslösern verknüpfen als das Unterlassen von Verhalten. So kann ein Zeitpunkt, ein Ort oder ein Gefühl zum Startsignal für eine Handlung werden. Genau das erleichtert den Übergang von bewusster Entscheidung zu automatisierter Routine. In der genannten Studie waren Teilnehmende mit Annäherungszielen signifikant erfolgreicher. Ihre Erfolgsquote lag bei knapp 59 %.
Warum Formulierungen über Erfolg entscheiden
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Gewohnheiten im Gehirn nicht einfach gelöscht werden können. Selbst wenn wir ein Verhalten nicht mehr wollen, bleiben alte Verknüpfungen bestehen. Ein reiner Verzicht hinterlässt deshalb häufig eine funktionale Lücke im Alltag. Das alte Verhalten fällt weg, aber es gibt noch keine klare Alternative.
Erfolgreiche Gewohnheitsänderung folgt deshalb dem Prinzip des Überschreibens. An die Stelle der alten Gewohnheit muss eine neue Handlung treten, die im gleichen Kontext greift. Wer beispielsweise weniger Zeit in sozialen Medien verbringen möchte, kommt mit dem Ziel „Ich nutze mein Handy weniger“ kaum weiter. Deutlich wirksamer ist eine handlungsorientierte Formulierung wie: „Wenn mir langweilig ist, lese ich eine Seite in einem Buch“.
Dass genau dieses Prinzip funktioniert, zeigt auch die klinische Verhaltensforschung: Unerwünschte Gewohnheiten verschwinden selten einfach von selbst, sondern werden am zuverlässigsten verändert, wenn im gleichen Auslöser-Kontext gezielt eine neue, konkurrenzfähige Reaktion aufgebaut wird (also Substitution statt reiner Vermeidung).16Harvey, A. G., Callaway, C. A., Zieve, G. G., Gumport, N. B., & Armstrong, C. C. (2022). Applying the Science of Habit Formation to Evidence-Based Psychological Treatments for Mental Illness. Perspectives on psychological science : a journal of the Association for Psychological Science, 17(2), 572–589. https://doi.org/10.1177/1745691621995752.
Die praktische Regel: Ziele sollten immer als konkrete, ausführbare Handlungen formuliert werden. Je klarer und einfacher sie sind, desto leichter lassen sie sich mit einem Auslöser verknüpfen. Im Mittelpunkt steht nicht der Verzicht, sondern das neue Verhalten, das das alte ersetzt. Genau hier beginnt Gewohnheitsbildung: nicht durch Willenskraft, sondern durch das bewusste Gestalten deines Alltags.
Der Zeitfaktor: Wie lange Gewohnheiten wirklich brauchen

Wie lange dauert es wirklich, bis sich ein neues Verhalten automatisch anfühlt? Im Internet hält sich hartnäckig die Idee, dass dafür etwa 21 Tage ausreichen. Für diese Zahl gibt es jedoch keine belastbare wissenschaftliche Grundlage. Diese Zahl ist eher ein populärer Richtwert aus der Selbsthilfe-Ecke als das Ergebnis systematischer Forschung. Die Forschung zeigt deutlich, dass für gesundheitsbezogene Routinen eher Wochen bis Monate realistisch sind – nicht drei Wochen.
Langzeitstudien zur Gewohnheitsbildung und aktuelle systematische Übersichten zeichnen ein deutlich differenzierteres Bild. Entscheidend ist nicht eine feste Zeitspanne, sondern der Prozess, mit dem sich Verhalten durch Wiederholung in einem stabilen Kontext schrittweise automatisiert.
Der Durchschnitt
Wie lange es dauert, bis sich ein neues Verhalten automatisiert, lässt sich nicht auf eine feste Zahl reduzieren. Aktuelle systematische Übersichtsarbeiten zur Gewohnheitsbildung zeigen jedoch ein konsistentes Muster: Gesundheitsbezogene Routinen benötigen i. d. R. mehrere Monate, bis sie spürbar automatisiert sind. In einem umfassenden systematischen Review lagen die berichteten Zeiträume häufig im Bereich von etwa zwei bis fünf Monaten. Dies widerspricht der weitverbreiteten 21-Tage-Regel. Oft wird nach einiger Zeit ein Plateau erreicht, ab dem sich das Verhalten deutlich weniger anstrengend anfühlt und zunehmend ohne bewusste Entscheidung abläuft.17Singh, B., Murphy, A., Maher, C., & Smith, A. E. (2024). Time to Form a Habit: A Systematic Review and Meta-Analysis of Health Behaviour Habit Formation and Its Determinants. Healthcare (Basel, Switzerland), 12(23), 2488. https://doi.org/10.3390/healthcare12232488..
Ein häufig zitierter Orientierungswert stammt aus einer prospektiven Beobachtungsstudie, in der das Plateau der Automatisierung im Median nach rund 66 Tagen erreicht wurde (definiert als etwa 95 % der maximalen Automatisierung)18Lally, P., van Jaarsveld, C. H. M., Potts, H. W. W., & Wardle, J. (2010). How are habits formed: Modelling habit formation in the real world. European Journal of Social Psychology, 40(6), 998–1009. https://doi.org/10.1002/ejsp.674.. Diese Zahl ist jedoch als beispielhafter Richtwert zu verstehen, nicht als allgemeingültige Regel.
Die große Spannbreite
Wesentlich wichtiger als der Durchschnitt ist die individuelle Streuung. Je nach Person, Verhalten und Kontext kann die Automatisierung eines neuen Verhaltens bereits nach wenigen Wochen einsetzen oder sich über viele Monate hinweg entwickeln. In systematischen Übersichten werden hierfür sehr breite Zeiträume berichtet, die von wenigen Tagen bis hin zu fast einem Jahr reichen (4–335 Tage)19Singh, B., Murphy, A., Maher, C., & Smith, A. E. (2024). Time to Form a Habit: A Systematic Review and Meta-Analysis of Health Behaviour Habit Formation and Its Determinants. Healthcare (Basel, Switzerland), 12(23), 2488. https://doi.org/10.3390/healthcare12232488..
Auch die oft zitierte 66-Tage-Marke verdeutlicht diese Streuung: In der zugrunde liegenden Studie reichte die Dauer bis zum Plateau von etwa 18 bis 254 Tagen, abhängig von individuellen und situativen Faktoren20Lally, P., van Jaarsveld, C. H. M., Potts, H. W. W., & Wardle, J. (2010). How are habits formed: Modelling habit formation in the real world. European Journal of Social Psychology, 40(6), 998–1009. https://doi.org/10.1002/ejsp.674.. Einfache, klar definierte Handlungen wie das tägliche Trinken eines Glases Wasser automatisieren sich i. d. R. deutlich schneller als komplexe Routinen wie regelmäßiges Training oder längere sportliche Einheiten. Entscheidend sind dabei u. a. die Komplexität des Verhaltens, die Stabilität des Auslösers im Alltag sowie die individuellen Lebensumstände.
Der typische Verlauf
Unabhängig von der genauen Dauer zeigt sich ein konsistentes Muster: Die Entwicklung von Gewohnheiten verläuft nicht linear, sondern asymptotisch, mit schnellen Fortschritten zu Beginn und einer allmählichen Annäherung an ein Plateau. Zu Beginn sind die Fortschritte groß und jede Wiederholung erleichtert das Verhalten spürbar. Mit der Zeit flacht dieser Zuwachs jedoch ab und weitere Wiederholungen führen nur noch zu kleinen Steigerungen der Automatisierung.
Dieses Abflachen ist jedoch kein Zeichen des Scheiterns, sondern ein normaler Bestandteil des Lernprozesses. Während die frühen Phasen besonders prägend sind, geht es später vor allem darum, die neue Routine stabil in den Alltag einzubetten und verlässlich beizubehalten.
Die wichtigste Entlastung für deine Motivation
Ein zentraler Befund aus der Forschung ist, dass das einmalige Auslassen den Prozess der Gewohnheitsbildung nicht zunichte macht. Wer eine Gelegenheit verpasst, verliert also nicht automatisch den bisher aufgebauten Lerneffekt. Die neu gebildeten Verknüpfungen werden nicht sofort wieder gelöscht, solange das Verhalten anschließend fortgeführt wird.
Dieses Muster deckt sich mit Befunden aus der sog. Maintenance-Forschung, also Studien zur langfristigen Aufrechterhaltung von Verhaltensänderungen. Demnach hängt Erfolg weniger von lückenloser Umsetzung als von der Fähigkeit ab, nach Unterbrechungen wieder zur Routine zurückzukehren.21Kwasnicka, D., Dombrowski, S. U., White, M., & Sniehotta, F. (2016). Theoretical explanations for maintenance of behaviour change: a systematic review of behaviour theories. Health psychology review, 10(3), 277–296. https://doi.org/10.1080/17437199.2016.1151372.
Dabei gilt ein wichtiges Prinzip: Beständigkeit über längere Zeit ist entscheidender als eine perfekte Umsetzung im einzelnen Moment. Wer nach Unterbrechungen bewusst zur Routine zurückkehrt und langfristig dabei bleibt, erhöht die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass sich eine neue Gewohnheit tatsächlich festigt.
Die Anatomie der Gewohnheit: Initiierung und Ausführung
Warum fühlen sich manche Gewohnheiten mühelos an, während andere selbst nach Wochen noch Überwindung kosten? Ein wichtiger Schlüssel liegt darin, Gewohnheiten nicht als einen einzigen Prozess zu verstehen, sondern als Zusammenspiel zweier unterschiedlicher Phasen.
In der Gewohnheitsforschung werden diese Phasen als Habitual Instigation und Habitual Execution bezeichnet22Gardner, B., Phillips, L. A., & Judah, G. (2016). Habitual instigation and habitual execution: Definition, measurement, and effects on behaviour frequency. British journal of health psychology, 21(3), 613–630. https://doi.org/10.1111/bjhp.12189.. Beide sind Teil desselben Lernprozesses, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen.
Habituale Instigation: Der Startimpuls
Die Instigation oder Initiierung beschreibt den Moment, in dem eine Handlung automatisch ausgewählt und gestartet wird. Ein bestimmter Kontext oder Reiz genügt, um diesen Impuls auszulösen. Du kommst nach Hause, siehst deine Laufschuhe und hast plötzlich den Gedanken: „Ich gehe laufen“. Dieser Impuls entsteht ohne bewusstes Abwägen und oft schneller, als dir bewusst ist.
Aus verhaltenspsychologischer Sicht ist diese Phase entscheidend, da sie die eigentliche Hürde der Verhaltensaufnahme darstellt. Solange der Start einer Handlung jedes Mal neu entschieden werden muss, bleibt das Verhalten fragil und ist anfällig für Stress, Müdigkeit oder Ablenkung. Erst wenn der Startimpuls automatisiert ist, wird das Verhalten stabil.
Habituale Execution: Die Ausführung
Die Execution oder Ausführung beschreibt die Handlung selbst, also das tatsächliche Tun. Beim Laufen sind das beispielsweise die Bewegungsabläufe, das Tempo oder die Route. Diese Phase kann ebenfalls automatisiert sein, etwa bei gut eingeübten motorischen Routinen. Für die Frage, ob ein Verhalten regelmäßig stattfindet, ist sie jedoch überraschend zweitrangig.
Viele Menschen investieren ihre Energie vor allem in die Ausführung. Genau hier liegt jedoch ein weitverbreiteter Denkfehler. Sie optimieren Trainingspläne, setzen sich hohe Leistungsziele oder feilen an Details, obwohl das eigentliche Problem häufig ein anderes ist: Die Handlung wird gar nicht erst begonnen.
Warum der Fokus auf dem Start liegen sollte
Empirische Studien zeigen, dass für die langfristige Aufrechterhaltung von Verhalten vor allem die Konsistenz des Beginns entscheidend ist. Bei neuen Mitgliedern eines Fitnessstudios war nicht die Intensität oder Dauer des Trainings ausschlaggebend, sondern die Regelmäßigkeit des „Hingehens“. Wer es schaffte, das Erscheinen im Studio zu automatisieren, blieb langfristig aktiver – unabhängig davon, wie anspruchsvoll das Training war.23Kaushal, N., Rhodes, R. E., Spence, J. C., & Meldrum, J. T. (2017). Increasing Physical Activity Through Principles of Habit Formation in New Gym Members: a Randomized Controlled Trial. Annals of behavioral medicine : a publication of the Society of Behavioral Medicine, 51(4), 578–586. https://doi.org/10.1007/s12160-017-9881-5.
In der Praxis wird daher häufig der Fehler gemacht, die Ausführung zu perfektionieren, während der Start dem Zufall überlassen wird. Solange Fragen wie „Soll ich heute hingehen?“ oder „Lohnt sich das jetzt?“ auftauchen, ist keine Gewohnheit etabliert, sondern es findet ein täglicher innerer Aushandlungsprozess statt.
Praxis-Tipp: Micro-Habits für den Start
Ein wirksamer Ansatz ist es, den Startimpuls bewusst extrem klein zu halten. Studien zur Gewohnheitsbildung zeigen, dass einfache, klar definierte Einstiegshandlungen, die zuverlässig an einen bestehenden Kontext gekoppelt sind, besonders gut automatisiert werden können24Judah, G., Gardner, B., & Aunger, R. (2013). Forming a flossing habit: an exploratory study of the psychological determinants of habit formation. British journal of health psychology, 18(2), 338–353. https://doi.org/10.1111/j.2044-8287.2012.02086.x.. Entscheidend ist nicht der Umfang der Handlung, sondern die Verlässlichkeit des Starts.
Statt dir vorzunehmen, 30 Minuten joggen zu gehen, lautet das Ziel: „Wenn ich nach Hause komme, ziehe ich meine Laufschuhe an“. Dieser kleine Schritt senkt die Einstiegshürde drastisch und trainiert genau die Reiz-Handlungs-Verknüpfung, auf die es ankommt.
Selbst wenn du danach wieder aufhörst, war der Versuch erfolgreich, weil der relevante neuronale Pfad aktiviert wurde. In der Praxis führt dieser kleine Startimpuls häufig dazu, dass die Handlung von selbst weiterläuft. Der Maßstab für Erfolg ist nicht die Länge des Laufs, sondern die Zuverlässigkeit des Starts.
Faustregel für den Alltag: Wenn du eine Gewohnheit aufbauen möchtest, solltest du nicht die Leistung, sondern den Start optimieren. Läuft der Beginn automatisch ab, folgt die Ausführung häufig von selbst. Ein kleiner, verlässlicher Einstieg senkt die mentale Hürde und verhindert tägliche Entscheidungsprozesse.
Strategische Automatisierung: Wenn-Dann-Pläne
Wie lässt sich der Startimpuls einer neuen Gewohnheit gezielt absichern? Ein zentrales Werkzeug dafür sind sog. Wenn-Dann-Pläne, die in der Forschung als Implementation Intentions bezeichnet werden25Gollwitzer, P. M. (1999). Implementation intentions. American Psychologist, 54(7), 493–503. https://doi.org/10.1037/0003-066X.54.7.493.. Sie gehen auf die Arbeit von Peter Gollwitzer zurück und adressieren das Kernproblem vieler Vorsätze: die Lücke zwischen guter Absicht und tatsächlichem Handeln.
Ein bloßer Vorsatz wie „Ich möchte mich mehr bewegen“ bleibt abstrakt. Damit Verhalten zuverlässig startet, muss eine konkrete Situation eindeutig mit einer konkreten Handlung verknüpft werden. Genau hier setzen Wenn-Dann-Pläne an. Sie übertragen die Kontrolle vom bewussten Entscheiden auf den Kontext selbst. Trifft die Situation ein, wird die Handlung automatisch angestoßen.
Gerade bei komplexen Gesundheitszielen, also Verhaltensweisen, die sich auf unterschiedliche Weise umsetzen lassen, hat sich dieses Vorgehen als besonders wirksam erwiesen26Phillips, L. A., Johnson, M., & More, K. R. (2019). Experimental test of a planning intervention for forming a ‚higher order‘ health-habit. Psychology & health, 34(11), 1328–1346. https://doi.org/10.1080/08870446.2019.1604956.. Neuere Untersuchungen bestätigen zudem, dass solche Techniken der Gewohnheitsbildung zu den effektivsten Methoden gehören, um beispielsweise körperliche Aktivität bei jungen Erwachsenen nachhaltig zu steigern27Whatnall, M. C., Sharkey, T., Hutchesson, M. J., Haslam, R. L., Bezzina, A., Collins, C. E., & Ashton, L. M. (2021). Effectiveness of interventions and behaviour change techniques for improving physical activity in young adults: A systematic review and meta-analysis. Journal of sports sciences, 39(15), 1754–1771. https://doi.org/10.1080/02640414.2021.1898107.. Planung hilft dabei, übergeordnete Ziele in wiederholbare Handlungsmuster zu übersetzen und so schrittweise zu automatisieren.
Stufe 1: Der Handlungsplan (Action Plan)
Die Grundformel lautet:
Wenn [Situation X] eintritt, dann werde ich [Verhalten Y] ausführen.
Der entscheidende Punkt ist dabei die Präzision. Situation und Handlung müssen so konkret formuliert sein, dass sie im Alltag eindeutig erkannt werden können. Dadurch entsteht eine feste Reiz-Handlungs-Verknüpfung, die den Startimpuls stabilisiert. Studien zeigen, dass solche Pläne die Umsetzung von Intentionen deutlich verbessern – selbst in digitalen oder webbasierten Interventionen28Rebar, A. L., Williams, R., Short, C. E., Plotnikoff, R., Duncan, M. J., Mummery, K., Alley, S., Schoeppe, S., To, Q., & Vandelanotte, C. (2025). The impact of action plans on habit and intention strength for physical activity in a web-based intervention: is it the thought that counts?. Psychology & health, 40(4), 550–570. https://doi.org/10.1080/08870446.2023.2241777..
Beispiele:
- „Wenn ich morgens den Wasserkocher anschalte, dann mache ich fünf Kniebeugen.“
- „Wenn ich im Restaurant die Speisekarte öffne, dann suche ich zuerst nach einer vegetarischen Option.“
In beiden Fällen entfällt die bewusste Entscheidung im entscheidenden Moment. Die Situation übernimmt die Rolle des Auslösers.
Stufe 2: Der Bewältigungsplan (Coping Plan)
Der zweite Schritt, der oft unterschätzt wird, betrifft den Umgang mit Störungen. Der Alltag verläuft selten ideal. Zeitmangel, schlechtes Wetter oder Erschöpfung gehören zur Realität. Wer dafür keinen Plan hat, interpretiert Hindernisse häufig als persönliches Scheitern.
Bewältigungspläne erweitern den Wenn-Dann-Ansatz um typische Barrieren. Sie legen vorab fest, wie reagiert wird, wenn die ursprüngliche Handlung nicht möglich ist. Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen, die mögliche Hindernisse antizipieren und entsprechende Alternativpläne erstellen, ihre Ziele häufiger erreichen und diese auch langfristig aufrechterhalten29Sniehotta, F. F., Nagy, G., Scholz, U., & Schwarzer, R. (2006). The role of action control in implementing intentions during the first weeks of behaviour change. The British journal of social psychology, 45(Pt 1), 87–106. https://doi.org/10.1348/014466605X62460. 30Schwarzer, R., Warner, L., Fleig, L., Gholami, M., Salvatore, S., Cianferotti, L., Ntzani, E., Roman-Viñas, B., Trichopoulou, A., & Brandi, M. L. (2018). Psychological mechanisms in a digital intervention to improve physical activity: A multicentre randomized controlled trial. British journal of health psychology, 23(2), 296–310. https://doi.org/10.1111/bjhp.12288..
Beispiele:
- „Wenn es regnet und ich nicht joggen gehe, dann mache ich 15 Minuten Yoga im Wohnzimmer.“
- „Wenn ich abends zu müde zum Kochen bin, dann esse ich den vorbereiteten Salat aus dem Kühlschrank.“
Der entscheidende Vorteil liegt darin, dass das Ziel nicht aufgegeben wird, sondern lediglich der Weg dorthin angepasst wird. Das Verhalten bleibt im System aktiv.
Warum Wenn-Dann-Pläne so wirksam sind
Wenn-Dann-Pläne funktionieren nicht, weil sie die Motivation erhöhen, sondern weil sie die Anzahl der zu treffenden Entscheidungen reduzieren. Sie verlagern die Steuerung von bewusstem Abwägen auf automatisierte Reaktionen auf den Kontext. Dadurch sind sie besonders robust gegenüber Stress, Müdigkeit und Ablenkung.
Für die Gewohnheitsbildung bedeutet das: Je klarer der Auslöser definiert ist und je einfacher die Handlung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Startimpuls zuverlässig erfolgt. In Kombination mit Bewältigungsplänen entsteht so ein stabiles System, das auch unter realen Alltagsbedingungen funktioniert.
Letztendlich zeigt sich: Erfolgreiche Routinen entstehen nicht durch maximale Selbstkontrolle im Moment, sondern durch vorausschauende Planung. Wer im Voraus festlegt, wann und wie er handelt, entlastet sich genau dort, wo Gewohnheiten sonst scheitern.
Alte Gewohnheiten brechen: Das Prinzip der Reibung
Warum reichen Motivation und gute Vorsätze oft nicht aus, um alte Gewohnheiten zu ändern? Ein zentraler Grund ist, dass etablierte Verhaltensmuster nicht einfach verschwinden. Sie sind im Gedächtnis verankert und können auch dann aktiviert werden, wenn wir eigentlich etwas anderes vorhaben. Unter Stress, Zeitdruck oder Müdigkeit werden diese alten Muster besonders leicht reaktiviert.31Gardner, B., Richards, R., Lally, P., Rebar, A., Thwaite, T., & Beeken, R. J. (2021). Breaking habits or breaking habitual behaviours? Old habits as a neglected factor in weight loss maintenance. Appetite, 162, 105183. https://doi.org/10.1016/j.appet.2021.105183.
Die Forschung zur Gewohnheitssteuerung zeigt deshalb: Alte Gewohnheiten lassen sich i. d. R. nicht vollständig löschen32Webb, T. L., Sheeran, P., & Luszczynska, A. (2009). Planning to break unwanted habits: habit strength moderates implementation intention effects on behaviour change. The British journal of social psychology, 48(Pt 3), 507–523. https://doi.org/10.1348/014466608X370591.. Dafür muss die Verbindung zwischen Auslöser und Reaktion gestört oder umgelenkt werden. Genau hier setzt das Prinzip der Reibung an. In der psychologischen Forschung wird dieser Ansatz als situative Selbstkontrolle oder als Gestaltung der Handlungssituation bezeichnet. Dabei geht es um die bewusste Gestaltung von Situationen, bevor Versuchungen überhaupt relevant werden. Das bedeutet, dass wir unser Verhalten nicht erst im Moment der Versuchung steuern, sondern bereits im Voraus, indem wir Situationen gezielt verändern. Das ist besonders wirksam, da Impulse so oft gar nicht erst stark werden und wir uns den inneren Kampf sparen33Duckworth, A. L., Gendler, T. S., & Gross, J. J. (2016). Situational Strategies for Self-Control. Perspectives on psychological science : a journal of the Association for Psychological Science, 11(1), 35–55. https://doi.org/10.1177/1745691615623247..
Kontextveränderung: Das Fenster der Gelegenheit
Gewohnheiten sind stark an bestimmte Kontexte gebunden. Orte, Tageszeiten oder feste Abläufe fungieren als Auslöser, die ein bestimmtes Verhalten automatisch auslösen. Verändern sich diese Kontexte, verlieren alte Gewohnheiten einen Teil ihrer Macht. Solche Phasen werden in der Forschung als Gelegenheitsfenster für eine Verhaltensänderung beschrieben34Verplanken, B., & Orbell, S. (2022). Attitudes, Habits, and Behavior Change. Annual review of psychology, 73, 327–352. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-020821-011744. 35Wood, W., & Neal, D. T. (2007). A new look at habits and the habit-goal interface. Psychological review, 114(4), 843–863. https://doi.org/10.1037/0033-295X.114.4.843..
Typische Beispiele hierfür sind ein Umzug, ein Jobwechsel, ein neuer Tagesrhythmus oder auch kleinere Veränderungen, wie das Umstellen von Möbeln. In diesen Momenten werden gewohnte Auslöser unterbrochen, wodurch sich neue Verhaltensweisen leichter etablieren lassen. Wer bewusst neue Routinen in solche Übergänge einbettet, erhöht die Erfolgschancen deutlich.
Reibung erhöhen: Kleine Barrieren mit großer Wirkung
Wenn ein Kontextwechsel nicht möglich ist, kann gezielt Reibung eingesetzt werden. Reibung bedeutet, unerwünschtes Verhalten mit einem zusätzlichen Aufwand zu versehen. Da automatisches Verhalten auf Effizienz ausgelegt ist, genügen oft minimale Hürden, um den Autopiloten zu stoppen.
Praktische Beispiele sind:
- Die Fernbedienung außer Reichweite legen oder Batterien entfernen.
- Social-Media-Apps vom Startbildschirm löschen oder zusätzliche Anmeldeschritte einbauen.
- Snacks nicht sichtbar oder griffbereit lagern, sondern bewusst weiter weg aufbewahren.
Diese Maßnahmen wirken nicht, weil sie Verbote darstellen, sondern weil sie den automatischen Ablauf unterbrechen. Der kurze Moment der Verzögerung schafft Raum für eine bewusste Entscheidung. Oft genügt dieser kleine Abstand, um impulsives Verhalten zu vermeiden oder durch eine Alternative zu ersetzen.
Die entscheidende Logik dahinter
Reibung wirkt nicht gegen Motivation, sondern unabhängig von ihr. Sie greift genau dort an, wo Gewohnheiten entstehen, nämlich bei der schnellen Kopplung von Auslöser und Handlung. Je weniger reibungslos ein unerwünschtes Verhalten abläuft und je einfacher die gewünschte Alternative zugänglich ist, desto wahrscheinlicher verschiebt sich das Verhalten langfristig.
Daraus ergibt sich ein klarer Fokus: Wer alte Gewohnheiten verändern möchte, sollte weniger auf reine Selbstkontrolle setzen und mehr auf die bewusste Gestaltung der eigenen Umgebung. Verhalten entsteht nämlich nicht allein im Kopf, sondern im Zusammenspiel von Mensch und Umgebung, also in den konkreten Situationen, in denen wir uns alltäglich bewegen.
Der Treibstoff: Warum „Spaß“ wissenschaftlich notwendig ist

Viele Menschen glauben, dass erfolgreiche Gewohnheitsbildung vor allem eine Frage der Disziplin ist. Je härter man sich zusammenreißt, desto besser müsse es funktionieren. Die Forschung zeigt jedoch ein anderes Bild. Für die langfristige Stabilität von Gewohnheiten spielt nicht allein die Willenskraft, sondern in erster Linie die intrinsische Belohnung eine zentrale Rolle. Damit ist das positive Erleben gemeint, das mit der Handlung selbst verbunden ist.
Studien zeigen, dass Verhaltensweisen, die mit Freude, Interesse oder einem Gefühl von Kompetenz einhergehen, deutlich leichter zur Gewohnheit werden als solche, die ausschließlich aus Pflichtgefühl oder externem Druck ausgeführt werden36Gardner, B., & Lally, P. (2013). Does intrinsic motivation strengthen physical activity habit? Modeling relationships between self-determination, past behaviour, and habit strength. Journal of behavioral medicine, 36(5), 488–497. https://doi.org/10.1007/s10865-012-9442-0.. Dabei ist nicht entscheidend, ob eine Handlung objektiv „gesund“ oder „sinnvoll“ ist, sondern wie sie subjektiv erlebt wird.
Warum positive Gefühle Lernen beschleunigen
Aus neurobiologischer Sicht ist das gut erklärbar. Wenn ein Verhalten als lohnend erlebt wird, etwa durch Genuss, Erfolgserleben oder Erleichterung, werden im Gehirn Belohnungsprozesse aktiviert, die Lernen und Wiederholung begünstigen. Dopaminerge Systeme tragen dabei weniger direkt zum „Spaß“ oder zum subjektiven Genuss bei, sondern liefern v. a. Lern- und Vorhersagesignale, z. B. Verstärkungs- und Erwartungssignale, die ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher machen.37Berridge, K. C., & Kringelbach, M. L. (2015). Pleasure systems in the brain. Neuron, 86(3), 646–664. https://doi.org/10.1016/j.neuron.2015.02.018. 38Clark, L., & Zack, M. (2023). Engineered highs: Reward variability and frequency as potential prerequisites of behavioural addiction. Addictive behaviors, 140, 107626. https://doi.org/10.1016/j.addbeh.2023.107626.38.
Vereinfacht gesagt, erhöhen positive oder entlastende Rückmeldungen die Wahrscheinlichkeit, dass das Gehirn den Ablauf als lohnend abspeichert und ihn beim nächsten Mal leichter wieder auslöst. Es speichert gewissermaßen ab: „Das lohnt sich, das behalten wir bei“. Bleibt diese Rückmeldung jedoch langfristig aus oder ist das Verhalten überwiegend mit Unlust verbunden, wird es meist schwieriger, die Routine stabil beizubehalten. Gewohnheiten können jedoch auch aus anderen Motiven entstehen, etwa aus Pflicht, aus Überzeugung oder durch wiederkehrende Kontextreize. Ein Verhalten, das überwiegend mit Anstrengung, Frust oder innerem Zwang verknüpft ist, wird seltener als etwas gespeichert, das bereitwillig und langfristig wiederholt werden soll.
Diese Zusammenhänge decken sich mit Befunden zur Selbstregulation. Demnach sind positiv erlebtes Verhalten und affektive Rückmeldung zentrale Voraussetzungen dafür, dass neue Routinen nicht nur begonnen, sondern auch langfristig aufrechterhalten werden39Michaelsen, M. M., & Esch, T. (2021). Motivation and reward mechanisms in health behavior change processes. Brain research, 1757, 147309. https://doi.org/10.1016/j.brainres.2021.147309.. Externe Belohnungen wie Geld, Punkte oder materielle Anreize können das Verhalten zwar kurzfristig beeinflussen, verlieren jedoch schnell an Wirkung. Studien zeigen, dass sie im Vergleich zu intrinsischen Belohnungen deutlich schwächer mit stabiler Gewohnheitsbildung zusammenhängen40Judah, G., Gardner, B., Kenward, M. G., DeStavola, B., & Aunger, R. (2018). Exploratory study of the impact of perceived reward on habit formation. BMC psychology, 6(1), 62. https://doi.org/10.1186/s40359-018-0270-z.. Fällt die externe Belohnung weg, sinkt häufig auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten langfristig bestehen bleibt.
Praxis-Tipp: Temptation Bundling gezielt nutzen
Ein wirkungsvoller Ansatz besteht darin, gewünschte Gewohnheiten systematisch mit etwas Angenehmem zu verknüpfen. Dieses Prinzip wird als Temptation Bundling bezeichnet. Dabei wird eine Handlung, die Überwindung kostet, mit einer Aktivität verbunden, auf die man sich ohnehin freut.
Ein klassisches Beispiel: Höre deinen Lieblingspodcast oder deine Lieblingsserie ausschließlich beim Sport oder während eines Spaziergangs. Das positive Erlebnis dient dabei nicht nur als Motivation, sondern verstärkt auch aktiv den Lernprozess im Gehirn.
Zusätzlich kann es helfen, das positive Gefühl nach der Handlung bewusst wahrzunehmen. Schon wenige Sekunden, in denen du dir bewusst machst, dass du dich wacher, zufriedener oder ein wenig stolz fühlst, reichen aus, um die belohnende Wirkung zu verstärken. Dieses bewusste „Nachspüren“ des positiven Effekts unterstützt die Automatisierung unterstützt die Automatisierung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Verhalten beim nächsten Mal leichter anfühlt.
Motivation folgt dem Gefühl: Gewohnheiten entstehen nicht nur durch Disziplin. Je positiver sich ein Verhalten unmittelbar anfühlt, desto leichter lernt das Gehirn, es zu wiederholen. Achte deshalb nicht nur auf Regelmäßigkeit, sondern auch darauf, dass deine Gewohnheit eine kleine, spürbare Belohnung enthält.
Identität: Wer willst du sein?
Langfristig bleiben Gewohnheiten nicht auf der Ebene einzelner Handlungen stehen. Sie greifen tiefer und beeinflussen, wie wir uns selbst sehen. In der Gewohnheitsforschung gilt Identität als wichtiger Verstärker von Verhalten. Studien zeigen, dass Gewohnheiten nicht nur Verhalten steuern, sondern auch zur Ausbildung einer stabilen Selbstidentität beitragen, insbesondere wenn sie mit persönlichen Werten und Zielen verbunden sind41Verplanken, B., & Sui, J. (2019). Habit and Identity: Behavioral, Cognitive, Affective, and Motivational Facets of an Integrated Self. Frontiers in psychology, 10, 1504. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2019.01504.. Wiederholtes Handeln prägt das Selbstbild und umgekehrt stabilisiert das Selbstbild wiederum das Handeln. Die Beziehung zwischen Gewohnheit und Identität ist dabei nicht einseitig, sondern entwickelt sich wechselseitig im Verlauf wiederholten Handelns.
Vom Tun zum Sein
Anfänger formulieren dies oft vorsichtig: „Ich versuche, regelmäßig laufen zu gehen“.
Menschen mit stabilen Gewohnheiten sprechen anders: „Ich bin Läufer“.
Der Unterschied liegt somit nicht in der Leistung, sondern im Selbstverständnis. Sobald ein Verhalten Teil der eigenen Identität wird, verliert es den Charakter einer täglichen Entscheidung. Ein Nichtraucher muss sich nicht aktiv gegen eine Zigarette entscheiden. Er raucht nicht, weil es nicht zu ihm passt. Das Verhalten wird damit konsistent, auch ohne ständige Selbstkontrolle.
Längsschnittdaten mit wiederholten Erhebungen zeigen, dass Identität über die Zeit vergleichsweise stabil ist und eng mit tatsächlichem Verhalten zusammenhängt. Dabei scheint Identität Verhalten hauptsächlich darüber zu beeinflussen, wie klar und verbindlich eine Absicht erlebt wird. Kurzfristige Motivation oder bereits bestehende Gewohnheiten erklären diesen Zusammenhang dagegen nicht vollständig.42Alfrey, K.-L. R., Condie, M., & Rebar, A. L. (2025). The influence of identity within-person and between behaviours: A 12-week repeated measures study. Behavioral Sciences, 15(5), Article 623. https://doi.org/10.3390/bs15050623..
Identität entsteht durch Wiederholung
Identität ist kein Vorsatz, sondern ein Ergebnis. Sie entsteht nicht durch Selbstetiketten, sondern durch erlebte Handlungskonsistenz. Jede ausgeführte Gewohnheit liefert dem Gehirn Informationen darüber, wer man ist. Diese Selbstzuschreibung verfestigt sich mit der Zeit, insbesondere, wenn das Verhalten als freiwillig und kongruent zur eigenen Person erlebt wird.
Aus psychologischer Sicht bedeutet das: Gewohnheiten wirken nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Sie formen Erwartungen an das eigene Verhalten und reduzieren so zukünftige innere Konflikte.
Praxis: Identität aktiv nutzen
Ein hilfreicher Ansatz ist es, die gewünschte Identität bewusst mitzudenken, ohne sie erzwingen zu wollen. Anstatt auf die perfekte Umsetzung zu warten, geht es darum, regelmäßig kleine Belege für das gewünschte Selbstbild zu sammeln. Jede Wiederholung zählt als Stimme für diese Identität.
Identität entsteht durch Handeln: Warte nicht darauf, jemand zu werden, sondern handle so, als wärst du es bereits. Jede ausgeführte Gewohnheit ist eine Stimme für dein Selbstbild und senkt die innere Hürde für das nächste Mal. Identität wächst nicht durch Willenskraft, sondern durch konsequente Wiederholung im Alltag.
Digitale Unterstützung & Interventionen
Digitale Interventionen können die Bildung neuer Gewohnheiten wirksam unterstützen. Ein aktueller Scoping Review zeigt, dass strukturierte Programme zur Gewohnheitsbildung messbare Effekte auf Verhalten und Automatisierung erzielen können – insbesondere im Gesundheitskontext43Fritz, H., Hu, Y. L., Gahman, K., Almacen, C., & Ottolini, J. (2020). Intervention to Modify Habits: A Scoping Review. OTJR : occupation, participation and health, 40(2), 99–112. https://doi.org/10.1177/1539449219876877.. Die entscheidende Frage ist somit weniger, ob digitale Hilfsmittel sinnvoll sind, sondern wie sie eingesetzt werden.
Auch größere Übersichtsarbeiten zu Gesundheitsinterventionen zeigen, dass Programme – darunter viele digitale Angebote – erfolgreicher sind, wenn sie konkrete Verhaltensbausteine enthalten. In einer systematischen Übersicht zu körperlicher Aktivität bei jungen Erwachsenen wurde Gewohnheitsbildung als eine Technik identifiziert, die in den wirksameren Interventionen häufiger zum Einsatz kam.44Whatnall, M. C., Sharkey, T., Hutchesson, M. J., Haslam, R. L., Bezzina, A., Collins, C. E., & Ashton, L. M. (2021). Effectiveness of interventions and behaviour change techniques for improving physical activity in young adults: A systematic review and meta-analysis. Journal of sports sciences, 39(15), 1754–1771. https://doi.org/10.1080/02640414.2021.1898107.
Systematische Übersichten zu digitalen Gesundheitsinterventionen zeigen jedoch, dass viele Apps und Fitnesstracker auf eine explizite Interaktion angewiesen sind: Ziele festlegen, Daten eingeben, regelmäßig Feedback abrufen. Das erfordert dauerhaft Aufmerksamkeit und bewusste Entscheidungen, also genau jene Ressourcen, die im Alltag oft fehlen. Für eine nachhaltige Gewohnheitsbildung sind solche Ansätze daher nur begrenzt wirksam. Deutlich stabiler wirken Interventionen, die auf implizite Auslöser und automatische Kontext-Verknüpfungen setzen, anstatt ständig neue Entscheidungen einzufordern.45Zhu, Y., Long, Y., Wang, H., Lee, K. P., Zhang, L., & Wang, S. J. (2024). Digital Behavior Change Intervention Designs for Habit Formation: Systematic Review. Journal of medical Internet research, 26, e54375. https://doi.org/10.2196/54375..
Digitale Tools als Einstiegshilfe
In der Anfangsphase können Apps und Wearables eine wichtige Stützfunktion übernehmen. Sie fungieren als externe Auslöser, die an das gewünschte Verhalten erinnern und somit den Startimpuls absichern. Qualitative Befunde deuten darauf hin, dass digitale Hinweise in der Anfangsphase als unterstützend empfunden werden können, insbesondere, wenn eine Gewohnheit noch nicht etabliert ist und der Start jedes Mal bewusste Aufmerksamkeit erfordert46Karppinen, P., Oinas-Kukkonen, H., Alahäivälä, T., Jokelainen, T., Teeriniemi, A. M., Salonurmi, T., & Savolainen, M. J. (2018). Opportunities and challenges of behavior change support systems for enhancing habit formation: A qualitative study. Journal of biomedical informatics, 84, 82–92. https://doi.org/10.1016/j.jbi.2018.06.012..
In diesem Sinne wirken Apps wie ein Stützrad beim Fahrradfahren. Sie helfen, das Gleichgewicht zu halten, übernehmen aber nicht die eigentliche Arbeit der Gewohnheitsbildung.
Erinnerungen im richtigen Moment
Besonders wirksam sind digitale Interventionen, wenn sie kontextsensitiv eingesetzt werden. Moderne Ansätze nutzen sog. Micro-Randomized Trials, um Erinnerungen genau dann auszulösen, wenn die Wahrscheinlichkeit zur Ausführung am höchsten ist. Studien zu Just-in-Time-Interventionen zeigen, dass passgenaue Erinnerungen die Wahrscheinlichkeit, eine Handlung auszuführen, deutlich erhöhen können – insbesondere im Hinblick auf körperliche Aktivität47Baretta, D., Gillmann, N., Edgren, R., & Inauen, J. (2025). HabitWalk: A micro-randomized trial to understand and promote habit formation in physical activity. Applied psychology. Health and well-being, 17(1), e12605. https://doi.org/10.1111/aphw.12605..
Der Vorteil liegt nicht in der Häufigkeit der Erinnerungen, sondern in ihrer zeitlichen Passung. Eine Erinnerung kurz vor dem relevanten Auslöser ist wirksamer als ein generischer Reminder zu einem beliebigen Zeitpunkt.
Die entscheidende Grenze digitaler Hilfe
So hilfreich digitale Unterstützung zu Beginn auch sein mag, sie sollte nicht dauerhaft die Hauptsteuerung übernehmen. Das Ziel nachhaltiger Gewohnheitsbildung ist, dass der Kontext selbst zum Auslöser wird. Das Verhalten soll durch den Morgenkaffee, das Nachhausekommen oder das Zubettgehen angestoßen werden, nicht durch das Signal des Smartphones.
Wer sich langfristig ausschließlich auf Apps verlässt, riskiert, dass die Gewohnheit verschwindet, sobald die Erinnerung ausbleibt. Digitale Tools sind deshalb nur Mittel zum Zweck und nicht der Kern der Veränderung.
Digitale Tools sinnvoll einsetzen: Apps & Co. können den Einstieg in neue Routinen erleichtern. Sie ersetzen jedoch keine eigenständige Gewohnheit. Nutze digitale Helfer daher bewusst als Übergangslösung, um den Startimpuls zu stabilisieren, bis dein Verhalten fest an Alltagssituationen gekoppelt ist. Langfristig braucht eine stabile Gewohnheit keinen Bildschirm, sondern einen verlässlichen Kontext.
Warum Rückschläge normal sind
Ein kurzer Rückschlag bedeutet nicht, dass eine Gewohnheit gescheitert ist. Die Forschung zur Aufrechterhaltung von Verhalten zeigt, dass Unterbrechungen ein normaler Bestandteil von Veränderungsprozessen sind und den langfristigen Erfolg nicht verhindern müssen, solange das Verhalten anschließend wieder aufgenommen wird48Kwasnicka, D., Dombrowski, S. U., White, M., & Sniehotta, F. (2016). Theoretical explanations for maintenance of behaviour change: a systematic review of behaviour theories. Health psychology review, 10(3), 277–296. https://doi.org/10.1080/17437199.2016.1151372. Entscheidend ist daher nicht eine lückenlose Umsetzung, sondern die Fähigkeit, nach Unterbrechungen bewusst zur Routine zurückzukehren.
Gerade in solchen Phasen greifen andere Mechanismen als zu Beginn der Etablierung einer neuen Gewohnheit. Während bewusste Zielsetzung und Motivation anfangs hilfreich sind, verlieren sie unter Alltagsbedingungen wie Stress, Müdigkeit oder veränderten Abläufen an Verlässlichkeit. Interventionsstudien zur langfristigen Verhaltensstabilisierung zeigen, dass in diesen Momenten insbesondere kontextbezogene Auslöser und Erinnerungen entscheidend sind, um Verhalten wieder anzustoßen und langfristig aufrechtzuerhalten49Asbjørnsen, R. A., Smedsrød, M. L., Solberg Nes, L., Wentzel, J., Varsi, C., Hjelmesæth, J., & van Gemert-Pijnen, J. E. (2019). Persuasive System Design Principles and Behavior Change Techniques to Stimulate Motivation and Adherence in Electronic Health Interventions to Support Weight Loss Maintenance: Scoping Review. Journal of medical Internet research, 21(6), e14265. https://doi.org/10.2196/14265.
Kurzfristige Pausen unterbrechen die Automatisierung daher nicht dauerhaft. Gewohnheiten sind nicht dazu da, perfekte Kontinuität zu erzwingen, sondern Unterbrechungen dieser Kontinuität abzufedern. Rückschläge sind somit keine Ausnahme vom Prozess, sondern genau der Moment, für den Gewohnheiten entwickelt werden. Wer sie als normalen Teil des Prozesses akzeptiert, bleibt langfristig stabiler und vermeidet unnötigen Selbstdruck.
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Deine Checkliste für nachhaltige Gewohnheiten

Gewohnheiten entstehen nicht zufällig. Sie folgen klaren Mustern, die sich nutzen lassen. Die folgenden sieben Prinzipien fassen die zentralen Erkenntnisse der Gewohnheitsforschung zusammen und dienen dir als praktische Orientierung für den Alltag. Du musst sie nicht perfekt umsetzen. Wichtig ist, dass du sie konsequent und realistisch anwendest.
1. Formuliere positiv
Setze auf Annäherungsziele statt auf Verzicht. Ziele, die beschreiben, was du tun möchtest, sind leichter umsetzbar als solche, die nur etwas verbieten. Das Gehirn reagiert stärker auf konkrete Handlungen als auf abstrakte Einschränkungen.
2. Sei präzise
Verknüpfe dein Verhalten mit konkreten Situationen. Wenn-Dann-Pläne helfen dir dabei, gute Vorsätze in konkrete, wiederholbare Handlungen umzusetzen (Beispiel: Wenn ich morgens meinen ersten Kaffee trinke, nehme ich mir einen Moment ohne Handy und To-do-Liste). Je eindeutiger der Auslöser, desto zuverlässiger der Start.
3. Plane für Störungen
Hindernisse gehören zum Alltag. Wer im Voraus Alternativen definiert, bleibt auch bei Stress, Zeitmangel oder Müdigkeit handlungsfähig. Nicht das Auftreten von Störungen entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, sondern der Umgang mit ihnen.
4. Fokussiere dich auf den Start
Entscheidend ist nicht die perfekte Ausführung, sondern ein zuverlässiger Beginn. Automatisiere deshalb den ersten Schritt, z. B. das Anziehen der Sportschuhe, statt gleich das große Ziel in Angriff zu nehmen. Wenn der Start gesichert ist, folgt die Handlung oft von selbst.
5. Gestalte deine Umgebung
Erhöhe die Hürden für unerwünschtes Verhalten und senke sie für erwünschtes Verhalten. Kleine Veränderungen im Umfeld wirken oft stärker als reine Selbstkontrolle, da sie direkt in die automatischen Abläufe eingreifen.
6. Nutze Belohnung bewusst
Verhalten, das sich gut anfühlt, wird schneller automatisiert. Positive Rückmeldungen wie Stolz oder Freude nach der Handlung sind kein Bonus, sondern ein aktiver Teil des Lernprozesses. Das Gehirn lernt durch Wiederholung und Belohnung, nicht durch Druck.
7. Hab Geduld!
Gewohnheiten entstehen nicht über Nacht. Rechne damit, dass es mehrere Wochen bis Monate dauert, bis sich ein Verhalten stabil anfühlt. Solange du bewusst zur Routine zurückkehrst, sind einzelne Aussetzer kein Rückschritt.
Ein Praxisbeispiel aus der Forschung
Dass einfache, alltagsnahe Regeln wirksam sein können, zeigt das sog. 10-Top-Tips-Protokoll aus der Gewichtsmanagement-Forschung50Beeken, R. J., Croker, H., Morris, S., Leurent, B., Omar, R., Nazareth, I., & Wardle, J. (2012). Study protocol for the 10 Top Tips (10TT) trial: randomised controlled trial of habit-based advice for weight control in general practice. BMC public health, 12, 667. https://doi.org/10.1186/1471-2458-12-667.. Dabei wurden bewusst keine komplexen Programme eingesetzt, sondern wenige klar formulierte Verhaltensregeln, die konsequent im gleichen Alltagskontext wiederholt wurden. Beispiele hierfür sind feste Mahlzeitenstrukturen, gezielte Verhaltensersetzung und regelmäßige Selbstbeobachtung.
In einer randomisierten, kontrollierten Studie in der hausärztlichen Versorgung führte dieses Vorgehen nach drei Monaten zu einem signifikant größeren Gewichtsverlust als die übliche Versorgung51Beeken, R. J., Leurent, B., Vickerstaff, V., Wilson, R., Croker, H., Morris, S., Omar, R. Z., Nazareth, I., & Wardle, J. (2017). A brief intervention for weight control based on habit-formation theory delivered through primary care: results from a randomised controlled trial. International journal of obesity (2005), 41(2), 246–254. https://doi.org/10.1038/ijo.2016.206.. Über einen Zeitraum von 24 Monaten konnten die Teilnehmenden ihr Gewicht insgesamt halten. Die anfänglichen Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe glichen sich jedoch langfristig an. Dies unterstreicht einen zentralen Befund der Studie: Die Intervention zeigte eine klare kurzfristige Wirksamkeit, führte jedoch nicht zu einer dauerhaft überlegenen Langzeitentwicklung gegenüber der Standardversorgung.
Einfache Regeln können demnach schnell Wirkung entfalten. Für den langfristigen Erfolg ist es jedoch entscheidend, dass sie stabil in den Alltag integriert und tatsächlich automatisiert werden.
Für die Praxis bedeutet das: Nachhaltige Veränderung entsteht nicht durch immer neue Strategien oder strenge Kontrolle, sondern durch wenige, klare Handlungen, die regelmäßig im gleichen Kontext stattfinden und dadurch mit der Zeit automatischer werden.
Dein nächster Schritt
Nachhaltige Routinen entstehen nicht durch maximale Willenskraft, sondern durch kluge Vereinfachung. Wenn der Start klar definiert ist, der Kontext passt und sich das Verhalten zumindest ein wenig gut anfühlt, übernimmt der Autopilot nach und nach den Rest. Genau dort beginnt echte Gewohnheit.
Entscheidend ist nicht, alles perfekt zu machen, sondern am Ball zu bleiben.
Viel Erfolg bei der Umsetzung!
