Die Diagnose einer Depression markiert für viele Betroffene einen Wendepunkt im Leben. Einerseits entsteht neue Hoffnung auf Besserung, andererseits stellt sich die Herausforderung, sich mit verschiedenen Behandlungsoptionen auseinanderzusetzen. Die Entscheidung für ein Antidepressivum ist dabei oft von Zuversicht, aber auch von Unsicherheit begleitet. Fragen zu möglichen Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Herz-Kreislauf-Problemen oder emotionalen Veränderungen sind weit verbreitet – und vollkommen verständlich. Diese Bedenken sind nicht nur berechtigt, sondern auch entscheidend für den Therapieerfolg. Denn unerwünschte körperliche Effekte gehören zu den häufigsten Gründen, warum eine Behandlung vorzeitig abgebrochen wird.
Antidepressiva sind keine Einheitslösung. Die verfügbaren Medikamente unterscheiden sich deutlich voneinander – sowohl in ihrer Wirkweise als auch in ihren Nebenwirkungsprofilen. Für Patienten sowie für viele Behandelnde war es bislang schwierig, verlässliche, direkt vergleichende Informationen zu den körperlichen Auswirkungen der verschiedenen Substanzen zu finden.
Letzte Aktualisierung am 12.11.2025 / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API
Genau hier setzt eine aktuelle, groß angelegte Untersuchung an: Eine im Oktober 2025 in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Netzwerk-Meta-Analyse unter der Leitung von Dr. Toby Pillinger („Comparative physical adverse effects of 30 antidepressants: a systematic review and network meta-analysis“) liefert die bislang umfassendste vergleichende Auswertung der körperlichen Nebenwirkungen von 30 verschiedenen Antidepressiva.
Dieser Artikel bereitet die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie verständlich auf und ergänzt sie um weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu Langzeitfolgen und anderen relevanten Nebenwirkungen. Ziel ist es, dir eine fundierte Grundlage zu bieten, um gemeinsam mit deinem Arzt eine informierte und individuell passende Therapieentscheidung zu treffen.
Hinweis: Die folgenden Informationen dienen der Orientierung und ersetzen keine ärztliche Beratung. Die individuelle Verträglichkeit kann stark variieren, beispielsweise in Abhängigkeit von der Dosierung, von Begleiterkrankungen oder von der gleichzeitigen Einnahme anderer Medikamente.
Eine Studie bringt Klarheit: Was die Analyse zeigt
Um die Bedeutung der neuen Erkenntnisse richtig einzuordnen, lohnt sich ein Blick auf die wissenschaftliche Methode, die der Studie zugrunde liegt. Einzelne Untersuchungen können oft nur begrenzte oder sogar widersprüchliche Ergebnisse liefern. Um ein verlässlicheres Gesamtbild zu erhalten, fassen Forschende die Resultate vieler Einzelstudien daher in einer sog. Meta-Analyse, auch „Studie der Studien“ genannt, zusammen.
Der Unterschied: Was eine Netzwerk-Meta-Analyse ausmacht
Die Arbeit von Pillinger et al. geht noch einen Schritt weiter und nutzt eine Netzwerk-Meta-Analyse (NMA). Während klassische Meta-Analysen häufig nur Medikament A mit einem Placebo (also einer Scheinbehandlung) vergleichen, verknüpft eine NMA die gesamte verfügbare Evidenz in einem Netzwerk. Dadurch können direkte (z. B. A vs. B) und indirekte Vergleiche (z. B. A vs. C über B) gemeinsam ausgewertet werden.
Das Prinzip lässt sich leicht veranschaulichen: Wenn Studien zeigen, dass Anna größer ist als Bernd und andere, dass Bernd größer ist als Clara, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit schließen, dass Anna auch größer ist als Clara, selbst wenn Anna und Clara nie direkt verglichen wurden. Eine Netzwerk-Meta-Analyse überträgt dieses Prinzip auf die Bewertung von Medikamenten. Sie ermöglicht es, die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen verschiedener Präparate zueinander in Relation zu setzen und ein umfassendes Ranking aller untersuchten Behandlungen zu erstellen.
Warum die Pillinger-Studie wichtig ist
Die Bedeutung dieser Untersuchung liegt in ihrem außergewöhnlichen Umfang und ihrer methodischen Qualität. Das Forschungsteam wertete 151 klinische Studien sowie 17 Berichte der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA aus. Insgesamt wurden Daten von 58.534 Teilnehmenden berücksichtigt, die 30 verschiedene Antidepressiva oder ein Placebo erhielten.
Diese große Datengrundlage verleiht den Ergebnissen eine hohe statistische Aussagekraft. Es handelt sich um die erste Analyse dieser Art und Größenordnung, die sich gezielt und systematisch mit den körperlichen Nebenwirkungen verschiedener Antidepressiva im direkten Vergleich befasst.
Kardiometabolische Unterschiede: Gewicht, Herz und Stoffwechsel im Fokus
Die Analyse von Pillinger et al. zeigt deutlich, dass sich Antidepressiva in ihren Auswirkungen auf Herz, Kreislauf und Stoffwechsel, die als kardiometabolische Parameter zusammengefasst werden, erheblich unterscheiden. Diese Unterschiede sind nicht nur statistisch messbar, sondern oft auch klinisch relevant, also im Alltag spürbar und für die Gesundheit bedeutsam.
Gewicht – mehr als nur eine Zahl auf der Waage
Eine der größten Sorgen vieler Patienten ist eine mögliche Gewichtszunahme. Die Studie bestätigt, dass diese Sorge bei manchen Medikamenten berechtigt ist, bei anderen jedoch nicht.
Am einen Ende des Spektrums stehen deutliche Gewichtszunahmen. Die stärkste durchschnittliche Zunahme nach acht Wochen wurde bei den älteren trizyklischen Antidepressiva Maprotilin (+1,82 kg gegenüber Placebo) und Amitriptylin (+1,60 kg) beobachtet. Fast die Hälfte der Behandelten (48 % bzw. 46 %) nahm dabei klinisch relevant zu, was definiert ist als eine Gewichtszunahme von mehr als 2 kg. Am anderen Ende des Spektrums steht Agomelatin, das im Schnitt zu einem Gewichtsverlust von 2,44 kg führte: Hier verloren über die Hälfte der Teilnehmenden an Gewicht.
Die große Mitte: Überraschenderweise führten viele der heute am häufigsten verschriebenen Antidepressiva, v. a. aus den Klassen der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs), im Beobachtungszeitraum von acht Wochen tendenziell zu einem leichten Gewichtsverlust. Dazu gehören etwa Fluoxetin (-0,81 kg), Sertralin (-0,76 kg), Venlafaxin (-0,74 kg) und Duloxetin (-0,63 kg).
Die deutliche Gewichtszunahme bei einigen Substanzen – etwa Mirtazapin oder trizyklischen Antidepressiva – lässt sich dagegen pharmakologisch erklären. Diese Wirkstoffe blockieren u. a. Histamin-H1- und Serotonin-5-HT2C-Rezeptoren im Gehirn. Das kann den Appetit steigern und den Energieverbrauch senken.
Herz und Kreislauf – spürbare Unterschiede im Puls
Auch bei den Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System zeigen sich teils erhebliche Unterschiede, die für Patienten direkt spürbar sein können.
- Herzfrequenz: Die Spanne zwischen den untersuchten Medikamenten betrug über 20 Schläge pro Minute. Während der SSRI Fluvoxamin den Puls im Durchschnitt um etwa acht Schläge pro Minute senkte, beschleunigte das trizyklische Antidepressivum Nortriptylin ihn um fast 14 Schläge. Eine erhöhte Herzfrequenz wurde auch bei anderen Trizyklika (z. B. Amitriptylin, Imipramin) sowie den meisten SNRIs (z. B. Levomilnacipran, Desvenlafaxin, Venlafaxin) beobachtet. Diese Effekte beruhen auf ihrer aktivierenden Wirkung auf das Noradrenalin-System.
- Blutdruck: Auch beim Blutdruck ergaben sich deutliche Unterschiede. So senkte Nortriptylin den systolischen (oberen) Blutdruck im Durchschnitt um fast 7 mmHg, während Amitriptylin ihn um etwa 5 mmHg erhöhte – eine Differenz von über 11 mmHg. Insbesondere Trizyklika und SNRIs führten tendenziell zu Blutdruckanstiegen, was bei Patienten mit Hypertonie (Bluthochdruck) berücksichtigt werden sollte.
Der „versteckte“ Stoffwechsel – Blutfette und Blutzucker
Ein besonders aufschlussreicher Befund betrifft die „inneren“ Stoffwechselwerte, die auf der Waage nicht sichtbar sind.
Das Paradoxon: Einige Medikamente – darunter Paroxetin, Duloxetin, Desvenlafaxin und Venlafaxin – erhöhten die Gesamtcholesterinwerte im Blut, obwohl sie über einen Zeitraum von acht Wochen zu einem leichten Gewichtsverlust führten. Duloxetin war zudem mit einem Anstieg des Blutzuckerspiegels verbunden.
Warum das wichtig ist: Diese Entkopplung von Körpergewicht und Stoffwechselgesundheit ist eine zentrale Erkenntnis. Sie zeigt, dass eine Gewichtsreduktion nicht automatisch mit einer Verbesserung des gesamten kardiometabolischen Risikoprofils einhergeht. Die Mechanismen, die den Stoffwechsel beeinflussen (etwa Veränderungen in der Fettsäuresynthese), sind offenbar teilweise unabhängig von jenen, die den Appetit oder das Gewicht regulieren.
Daraus folgt: Eine alleinige Gewichtskontrolle reicht bei der Behandlung mit bestimmten Antidepressiva nicht aus. Insbesondere bei Risikopatienten sollten daher zusätzlich regelmäßig Laborwerte wie Blutfette und Blutzucker überprüft werden, um Stoffwechselveränderungen frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.
Antidepressiva im Direktvergleich – Auswirkungen auf Körper und Kreislauf

Die folgende Übersicht zeigt die durchschnittlichen Effekte ausgewählter Antidepressiva auf Gewicht, Herzfrequenz und Blutdruck über einen Zeitraum von acht Wochen. Die Daten stammen aus der Netzwerk-Meta-Analyse von Pillinger et al. (2025) und beziehen sich auf den Vergleich mit Placebo.
Diese Zusammenstellung verdeutlicht, wie unterschiedlich die körperlichen Effekte der Medikamente ausfallen können, sogar innerhalb derselben Wirkstoffklasse.
| Wirkstoff | Klasse | Durchschnittliche Gewichtsänderung (in 8 Wochen) | Durchschnittliche Änderung der Herzfrequenz (Schläge/Min.) | Durchschnittliche Änderung des systolischen Blutdrucks (mmHg) |
| Agomelatin | Melatonin-Agonist | -2,44 kg (starker Verlust) | Nicht verfügbar | Nicht verfügbar |
| Amitriptylin | TZA | +1,60 kg (starke Zunahme) | +9,25 (starke Erhöhung) | +4,86 (deutliche Erhöhung) |
| Bupropion | NDRI | -0,79 kg (Verlust) | +1,12 (leichte Erhöhung) | +0,02 (keine Änderung) |
| Citalopram | SSRI | -0,65 kg (Verlust) | -1,74 (leichte Senkung) | -1,01 (leichte Senkung) |
| Duloxetin | SNRI | -0,63 kg (Verlust) | +2,09 (Erhöhung) | +1,59 (Erhöhung) |
| Escitalopram | SSRI | -0,19 kg (kaum Änderung) | -1,24 (leichte Senkung) | -0,35 (keine Änderung) |
| Fluoxetin | SSRI | -0,81 kg (Verlust) | -1,12 (leichte Senkung) | +2,94 (Erhöhung) |
| Mirtazapin | NaSSA | +0,87 kg (Zunahme) | Nicht verfügbar | Nicht verfügbar |
| Sertralin | SSRI | -0,76 kg (Verlust) | -2,15 (Senkung) | +1,16 (leichte Erhöhung) |
| Venlafaxin | SNRI | -0,74 kg (Verlust) | +2,38 (Erhöhung) | +2,78 (Erhöhung) |
TZA = Trizyklisches Antidepressivum; NDRI = Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer; SSRI = Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; SNRI = Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; NaSSA = Noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum.
Medizinische Werte verständlich erklärt
Die Studie von Pillinger et al. betrachtete neben Gewicht und Puls auch Laborwerte, die Stoffwechsel und Herzfunktion abbilden. Diese Werte sind für viele zunächst abstrakt, doch ihr Verständnis ist wichtig, um die Studienergebnisse richtig einzuordnen.
Leberwerte – die Wächter des Stoffwechsels
Was bedeuten AST, ALT und ALP? Die Enzyme Alanin-Aminotransferase (ALT), Aspartat-Aminotransferase (AST) sowie Alkalische Phosphatase (ALP) spielen eine zentrale Rolle im Stoffwechsel. ALT und AST kommen überwiegend in Leberzellen vor. Werden diese Zellen geschädigt – etwa durch Medikamente, Alkohol oder Entzündungen –, gelangen die Enzyme ins Blut. Ein Anstieg ihrer Werte gilt daher als Frühwarnsignal für eine Leberbelastung. ALP ist zusätzlich in den Gallengängen und im Knochengewebe aktiv. Ein isolierter Anstieg dieses Enzyms kann auf eine Gallestauung (Cholestase) hinweisen.
Was zeigte die Studie? Die Analyse fand „starke Evidenz“ dafür, dass die SNRIs Duloxetin, Desvenlafaxin und Levomilnacipran die Werte von AST, ALT und ALP leicht erhöhen können. Laut den Autoren waren diese Veränderungen jedoch nicht klinisch relevant, da sie zwar messbar, aber i. d. R. so gering waren, dass sie keine akute Leberschädigung anzeigen.
Kontext aus weiterer Evidenz:
- Duloxetin: In klinischen Studien traten leichte, transiente ALT- oder AST-Erhöhungen bei etwa 1 % der Behandelten auf; klinisch manifeste Leberschädigungen sind selten und betreffen v. a. Personen mit vorbestehender Lebererkrankung oder regelmäßigem Alkoholkonsum1LiverTox: Clinical and Research Information on Drug-Induced Liver Injury [Internet]. Bethesda (MD): National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases; 2012-. Duloxetine. [Updated 2018 Jan 8]. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK548820/. 2Lin, N. D., Norman, H., Regev, A., Perahia, D. G., Li, H., Chang, C. L., & Dore, D. D. (2015). Hepatic outcomes among adults taking duloxetine: a retrospective cohort study in a US health care claims database. BMC gastroenterology, 15, 134. https://doi.org/10.1186/s12876-015-0373-4. 3Food and Drug Administration. (2014, October). Cymbalta (duloxetine hydrochloride) capsules: Prescribing information (NDA 021427/S037-042). U.S. Department of Health and Human Services. https://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/label/2014/021427s037s042lbl.pdf..
- Venlafaxin / Desvenlafaxin: Aminotransferasen-Anstiege kommen vor, sind meist transient und erfordern i. d. R. keine Therapieänderung; schwerwiegende Leberschäden sind selten4LiverTox: Clinical and Research Information on Drug-Induced Liver Injury [Internet]. Bethesda (MD): National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases; 2012-. Venlafaxine, Desvenlafaxine. [Updated 2020 Mar 6]. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK548799/..
- Levomilnacipran: Auch hier wurden in größeren Studien überwiegend milde, selbstlimitierende Erhöhungen von ALT und AST beobachtet; Werte über dem Fünffachen der oberen Normgrenze (> 5× ULN) traten in etwa 1 % der Fälle auf5Mago, R., Forero, G., Greenberg, W. M., Gommoll, C., & Chen, C. (2013). Safety and tolerability of levomilnacipran ER in major depressive disorder: results from an open-label, 48-week extension study. Clinical drug investigation, 33(10), 761–771. https://doi.org/10.1007/s40261-013-0126-5. 6LiverTox: Clinical and Research Information on Drug-Induced Liver Injury [Internet]. Bethesda (MD): National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases; 2012-. Milnacipran. [Updated 2019 May 20]. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK547960/..
Eine gleichzeitige Erhöhung aller drei Werte könnte auf eine leichte, medikamentenbedingte Cholestase hinweisen. In den vorliegenden Studien ist dies jedoch eher selten aufgetreten.
Das QTc-Intervall – der elektrische Takt des Herzens
Was bedeutet QTc? Im Elektrokardiogramm (EKG) lässt sich die elektrische Aktivität des Herzens als Kurve mit mehreren Abschnitten (P-QRS-T) darstellen. Die QT-Zeit misst, wie lange die Herzkammern benötigen, um sich elektrisch zu erregen und wieder zu entspannen. Da diese Dauer vom Puls abhängt, wird sie auf eine Standardfrequenz von 60 Schlägen pro Minute korrigiert – die sog. QTc-Zeit (c = „corrected“).
Warum ist das wichtig? Eine verlängerte QTc-Zeit – insbesondere über 500 Millisekunden (ms) – gilt als Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen, zu denen auch die gefährliche Torsade-de-Pointes-Tachykardie gehört. Mit jeder Verlängerung um etwa 10 ms steigt das Risiko weiter an, auch wenn es keinen absolut sicheren Schwellenwert gibt. Diese Rhythmusstörung kann zu Schwindel, Bewusstlosigkeit oder im schlimmsten Fall zu Kammerflimmern führen.7Li, M., & Ramos, L. G. (2017). Drug-Induced QT Prolongation And Torsades de Pointes. P & T : a peer-reviewed journal for formulary management, 42(7), 473–477.
Was ergab die Studie? Die Netzwerk-Meta-Analyse ergab keine eindeutigen Belege dafür, dass eines der untersuchten Antidepressiva die QTc-Zeit in klinisch relevantem Maße verlängert. Lediglich bei den trizyklischen Antidepressiva Nortriptylin und Amitriptylin gab es schwache Hinweise auf eine geringe Verlängerung.
Auf den ersten Blick scheint dies im Widerspruch zu früheren Beobachtungsstudien zu stehen, die insbesondere für das SSRI Citalopram ein gewisses Risiko beschreiben.
Wie lassen sich frühere Warnungen einordnen? Einige Beobachtungsstudien und Sicherheitsberichte – darunter eine Warnung der FDA8U.S. Food & Drug Administration. (2012). FDA drug safety communication: Revised recommendations for Celexa (citalopram hydrobromide) related to a potential risk of abnormal heart rhythms with high doses. https://www.fda.gov/drugs/drug-safety-and-availability/fda-drug-safety-communication-revised-recommendations-celexa-citalopram-hydrobromide-related. – beschreiben eine dosisabhängige QT-Verlängerung, die v. a. bei Citalopram auftritt.
Der Unterschied lässt sich durch die untersuchten Populationen erklären:
- In randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), wie sie in der Pillinger-Analyse ausgewertet wurden, werden meist jüngere, gesunde Personen ohne Begleiterkrankungen untersucht, die nur ein Medikament (Monotherapie) erhalten.
- Beobachtungsstudien aus der Praxis hingegen beziehen häufig ältere Patienten mit mehreren Vorerkrankungen und einer gleichzeitigen Einnahme mehrerer Medikamente (Polypharmazie) ein.
Das Risiko einer QTc-Verlängerung ist daher kontextabhängig. Für gesunde Erwachsene unter Monotherapie ist es laut RCT-Daten wahrscheinlich gering. Bei älteren Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Mehrfachmedikation kann dasselbe Medikament dagegen ein relevantes Risiko darstellen. Somit ergänzen sich beide Studientypen – sie beleuchten unterschiedliche Realitäten der klinischen Praxis.
Über die Studie hinaus: Langzeitfolgen und weitere Nebenwirkungen
Die Analyse von Pillinger et al. bietet eine hervorragende Momentaufnahme der Effekte während der durchschnittlich achtwöchigen Akutbehandlung. Für eine umfassende Bewertung müssen jedoch auch Langzeiteffekte und weitere Nebenwirkungen berücksichtigt werden, die für die Lebensqualität von entscheidender Bedeutung sind, in der Studie aber nicht im Fokus standen.
Kurzzeit- vs. Langzeiteffekte – der Blick in die Zukunft
Gewichtsentwicklung: Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen kurz- und langfristigen Effekten. Während viele SSRIs und SNRIs in den ersten acht Wochen tendenziell zu einem leichten Gewichtsverlust führen, kehrt sich dieser Trend bei längerer Einnahme oft um9Petimar, J., Young, J. G., Yu, H., Rifas-Shiman, S. L., Daley, M. F., Heerman, W. J., Janicke, D. M., Jones, W. S., Lewis, K. H., Lin, P. D., Prentice, C., Merriman, J. W., Toh, S., & Block, J. P. (2024). Medication-Induced Weight Change Across Common Antidepressant Treatments : A Target Trial Emulation Study. Annals of internal medicine, 177(8), 993–1003. https://doi.org/10.7326/M23-2742.. Langzeitbeobachtungen zeigen, dass die Einnahme vieler Antidepressiva über einen Zeitraum von einem Jahr oder länger häufig mit einer signifikanten Gewichtszunahme verbunden ist10Gill, H., Gill, B., El-Halabi, S., Chen-Li, D., Lipsitz, O., Rosenblat, J. D., Van Rheenen, T. E., Rodrigues, N. B., Mansur, R. B., Majeed, A., Lui, L. M. W., Nasri, F., Lee, Y., & Mcintyre, R. S. (2020). Antidepressant Medications and Weight Change: A Narrative Review. Obesity (Silver Spring, Md.), 28(11), 2064–2072. https://doi.org/10.1002/oby.22969.. Langzeitstudien deuten zudem darauf hin, dass sich die Körperzusammensetzung ungünstig verändern kann, beispielsweise durch einen Anstieg des Bauchfetts oder einen Rückgang der Muskelmasse11Mwinyi, J., Strippoli, M. P. F., Kanders, S. H., & et al. (2024). Long-term changes in adiposity markers during and after antidepressant therapy in a community cohort. Translational Psychiatry, 14, 330. https://doi.org/10.1038/s41398-024-03032-5. 12Andersson, P., Linge, J., Gurholt, T. P., Sønderby, I. E., Hindley, G., Andreassen, O. A., & Dahlqvist Leinhard, O. (2024). Poor muscle health and cardiometabolic risks associated with antidepressant treatment. Obesity (Silver Spring, Md.), 32(10), 1857–1869. https://doi.org/10.1002/oby.24085.. Solche Veränderungen könnten das kardiometabolische Risiko zusätzlich erhöhen.
Kardiovaskuläres Risiko: Depressionen gelten als eigenständiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen13Coupland, C., Hill, T., Morriss, R., Moore, M., Arthur, A., & Hippisley-Cox, J. (2016). Antidepressant use and risk of cardiovascular outcomes in people aged 20 to 64: cohort study using primary care database. BMJ (Clinical research ed.), 352, i1350. https://doi.org/10.1136/bmj.i1350.. Einige Studien deuten darauf hin, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva mit einem leicht erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse oder eine höhere Sterblichkeit verbunden sein könnte. Ein kausaler Zusammenhang ist jedoch schwer nachzuweisen, da Faktoren wie Krankheitsschwere, Begleiterkrankungen und Polypharmazie eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt zeigen Meta-Analysen kein konsistentes erhöhtes Risiko für SSRI, während ältere trizyklische Antidepressiva (TZA) tendenziell ungünstiger bewertet werden14Oh, S. W., Kim, J., Myung, S. K., Hwang, S. S., & Yoon, D. H. (2014). Antidepressant use and risk of coronary heart disease: meta-analysis of observational studies. British journal of clinical pharmacology, 78(4), 727–737. https://doi.org/10.1111/bcp.12383.. Eine aktuelle Netzwerk-Metaanalyse fand zudem kein erhöhtes Risiko für ventrikuläre Arrhythmien oder plötzlichen Herztod über die verschiedenen Wirkstoffklassen hinweg15Prasitlumkum, N., Cheungpasitporn, W., Tokavanich, N., Ding, K. R., Kewcharoen, J., Thongprayoon, C., Kaewput, W., Bathini, T., Vallabhajosyula, S., & Chokesuwattanaskul, R. (2021). Antidepressants and Risk of Sudden Cardiac Death: A Network Meta-Analysis and Systematic Review. Medical sciences (Basel, Switzerland), 9(2), 26. https://doi.org/10.3390/medsci9020026..
Sexuelle Funktionsstörungen – ein unterschätztes Problem
Sexuelle Nebenwirkungen gehören zu den häufigsten und belastendsten unerwünschten Effekten von Antidepressiva und sind ein zentraler Grund für Therapieabbrüche.
Symptome und Häufigkeit: Die Beschwerden reichen von einer verminderten Libido (also einem geringeren sexuellen Verlangen) über Erregungsstörungen wie Erektionsprobleme beim Mann oder Lubrikationsstörungen bei der Frau bis hin zu Orgasmusstörungen (verzögerter oder ausbleibender Orgasmus). Unter einer Therapie mit SSRI oder SNRI treten solche Einschränkungen häufig auf – je nach Studie bei etwa 30 bis 70 % der behandelten Personen16Köhler-Forsberg, O., Stiglbauer, V., Brasanac, J., Chae, W. R., Wagener, F., Zimbalski, K., Jefsen, O. H., Liu, S., Seals, M. R., Gamradt, S., Correll, C. U., Gold, S. M., & Otte, C. (2023). Efficacy and Safety of Antidepressants in Patients With Comorbid Depression and Medical Diseases: An Umbrella Systematic Review and Meta-Analysis. JAMA psychiatry, 80(12), 1196–1207. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2023.2983. 17Higgins, A., Nash, M., & Lynch, A. M. (2010). Antidepressant-associated sexual dysfunction: impact, effects, and treatment. Drug, healthcare and patient safety, 2, 141–150. https://doi.org/10.2147/DHPS.S7634..
Warum das passiert: Der Hauptmechanismus liegt in der Erhöhung des Botenstoffs Serotonin, der im Gehirn stimmungsaufhellend, aber auch hemmend auf die Sexualfunktion wirkt, u. a. durch eine Dämpfung der dopaminergen und noradrenergen Aktivität, welche für Motivation und Erregung wichtig sind. Entsprechend zeigen Substanzen mit starker serotonerger Wirkung (SSRI, SNRI, Clomipramin) das höchste Risiko. Präparate mit anderen Wirkmechanismen, wie Bupropion, das über Dopamin und Noradrenalin wirkt, oder Agomelatin, ein Melatonin-Agonist, verursachen laut Meta-Analysen deutlich seltener sexuelle Nebenwirkungen18Patel, K., Allen, S., Haque, M. N., Angelescu, I., Baumeister, D., & Tracy, D. K. (2016). Bupropion: a systematic review and meta-analysis of effectiveness as an antidepressant. Therapeutic advances in psychopharmacology, 6(2), 99–144. https://doi.org/10.1177/2045125316629071. 19Guaiana, G., Gupta, S., Chiodo, D., Davies, S. J., Haederle, K., & Koesters, M. (2013). Agomelatine versus other antidepressive agents for major depression. The Cochrane database of systematic reviews, 2013(12), CD008851. https://doi.org/10.1002/14651858.CD008851.pub2..
Emotionale Abflachung – wenn Gefühle gedämpft werden
Eine weitere häufig berichtete, aber weniger erforschte Nebenwirkung ist die sog. emotionale Abflachung (engl. emotional blunting).
Wie äußert sie sich? Betroffene beschreiben diesen Zustand nicht als Traurigkeit, sondern als eine Abnahme der emotionalen Bandbreite. Freude, Liebe, aber auch Trauer oder Ärger werden schwächer erlebt. Die emotionale Resonanz scheint reduziert – das Leben fühlt sich „flacher“ an. Diese Veränderung unterscheidet sich von der Anhedonie (Freudlosigkeit) bei Depressionen und von Apathie (Antriebslosigkeit).
Wie häufig und warum: Schätzungen zufolge erleben 40 bis 60 % der Personen unter SSRI- oder SNRI-Therapie ein gewisses Maß an emotionaler Abflachung20Ma, H., Cai, M., & Wang, H. (2021). Emotional Blunting in Patients With Major Depressive Disorder: A Brief Non-systematic Review of Current Research. Frontiers in psychiatry, 12, 792960. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021.792960.. Diese Nebenwirkung wird häufig als belastend empfunden und ist oft der Grund, warum Patienten die Behandlung abbrechen. Die genauen Mechanismen sind bislang unklar, doch eine übermäßige Aktivierung des serotonergen Systems scheint eine Rolle zu spielen. Es wurden auch dosisabhängige Formen einer medikamenteninduzierten Apathie beschrieben, die in der Regel reversibel sind21Masdrakis, V. G., Markianos, M., & Baldwin, D. S. (2023). Apathy associated with antidepressant drugs: a systematic review. Acta neuropsychiatrica, 35(4), 189–204. https://doi.org/10.1017/neu.2023.6.. Substanzen mit einem anderen Wirkmechanismus, wie beispielsweise Bupropion, scheinen dieses Risiko deutlich seltener auszulösen.
Risikoprofil häufiger patientenrelevanter Nebenwirkungen
Nicht alle Antidepressiva wirken gleich, das gilt auch für die Nebenwirkungen. Die folgende Übersicht zeigt, welche Wirkstoffklassen besonders häufig mit sexuellen Funktionsstörungen oder emotionaler Abflachung in Verbindung gebracht werden. Die Einschätzungen basieren auf aktueller wissenschaftlicher Literatur und klinischer Erfahrung und sollen dabei helfen, individuelle Risiken besser einzuordnen.
| Wirkstoffklasse | Risiko für sexuelle Dysfunktion | Risiko für emotionale Abflachung |
| SSRIs (z. B. Citalopram, Sertralin, Paroxetin) | Sehr hoch | Hoch |
| SNRIs (z. B. Venlafaxin, Duloxetin) | Sehr hoch | Hoch |
| Trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) | Hoch | Moderat |
| Mirtazapin (NaSSA) | Moderat | Moderat |
| Bupropion (NDRI) | Sehr gering | Sehr gering |
| Agomelatin | Sehr gering | Gering |
Fazit: Informierte Entscheidungen treffen
Die zentrale Erkenntnis aus der umfassenden Analyse von Pillinger et al. und der ergänzenden Forschung ist eindeutig: „Das eine Antidepressivum“ gibt es nicht. Die Unterschiede im Nebenwirkungs-Profil der einzelnen Substanzen sind real, messbar und für die individuelle Behandlung von großer Bedeutung.
Diese Ergebnisse könnten langfristig dazu beitragen, die Verschreibungspraxis zu verändern – weg vom reinen „Trial-and-Error“-Prinzip, hin zu einer datengestützten, personalisierten Medizin. Anstatt erst auf auftretende Nebenwirkungen zu reagieren, kann das Wissen über Wirkmechanismen und Risikoprofile dabei helfen, bereits vor Beginn der Therapie das am besten geeignete Medikament auszuwählen.
Ein Beispiel: Für eine Person mit Übergewicht, Bluthochdruck und Prädiabetes wären Wirkstoffe wie Amitriptylin oder Duloxetin vermutlich keine gute Erstwahl. Bupropion könnte hier besser geeignet sein. Wenn dir Sexualität und emotionale Lebendigkeit wichtig sind, könnten SSRIs oder SNRIs problematischer sein als Alternativen wie Agomelatin oder Mirtazapin.
Dieser Artikel soll dir helfen, ein informiertes Gespräch mit deinem Arzt zu führen – über Chancen, Risiken und persönliche Prioritäten. So entsteht eine gemeinsame, partizipative Entscheidungsfindung (Shared Decision-Making), bei der medizinische Expertise und Lebensqualität gleichermaßen zählen.
Antidepressiva sind hochwirksame und oft lebensrettende Medikamente. Dass sie Nebenwirkungen haben können, schmälert diesen Nutzen nicht – im Gegenteil: Es unterstreicht, wie wichtig eine individuell angepasste Therapie und eine regelmäßige ärztliche Begleitung sind. Studien wie die von Pillinger et al. liefern die wissenschaftliche Grundlage dafür und ebnen den Weg zu einer präziseren, sichereren und verträglicheren Behandlung von Depressionen.





