Magersucht, auch bekannt als Anorexia nervosa, ist eine ernste psychische Erkrankung, die durch die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines ungewöhnlich niedrigen Körpergewichts geprägt ist. Die Krankheit beginnt oft mit scheinbar harmlosen Diäten, die sich schleichend zu einem rigiden Kontrollverhalten über die Nahrungsaufnahme steigern. Mit der Zeit entwickeln Betroffene eine intensive Angst vor einer Gewichtszunahme und dem Kontrollverlust über ihr Essverhalten.
Im Verlauf der Krankheit wird die Nahrungsaufnahme zu einem zentralen Lebensinhalt, während die eigene Gesundheit und das soziale Leben oft in den Hintergrund rücken. Trotz ihres oft gefährlich niedrigen Körpergewichts empfinden sich Betroffene selbst als zu dick und schränken ihre Nahrungsaufnahme immer weiter ein. Die Konsequenzen von Magersucht sind weitreichend und schwerwiegend und betreffen sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit.
Magersucht tritt weltweit bei Frauen und Männern aller Altersgruppen auf. Die Prävalenz von Anorexia nervosa während der gesamten Lebensdauer liegt weltweit bei 0,4 % bei Frauen und 0,1 % bei Männern1Clemente-Suárez, V. J., Ramírez-Goerke, M. I., Redondo-Flórez, L., Beltrán-Velasco, A. I., Martín-Rodríguez, A., Ramos-Campo, D. J., Navarro-Jiménez, E., Yáñez-Sepúlveda, R., & Tornero-Aguilera, J. F. (2023). The Impact of Anorexia Nervosa and the Basis for Non-Pharmacological Interventions. Nutrients, 15(11), 2594. https://doi.org/10.3390/nu15112594.. Typischerweise tritt die Erkrankung im frühen Jugendalter oder während der Pubertät auf, kann jedoch auch im jungen Erwachsenenalter beginnen2Volpe, U., Tortorella, A., Manchia, M., Monteleone, A. M., Albert, U., & Monteleone, P. (2016). Eating disorders: What age at onset?. Psychiatry research, 238, 225–227. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2016.02.048.. Jüngste Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Lebenszeitprävalenz bei Frauen sogar bis zu 4 % und bei Männern bis zu 0,3 % betragen könnte3van Eeden, A. E., van Hoeken, D., & Hoek, H. W. (2021). Incidence, prevalence and mortality of anorexia nervosa and bulimia nervosa. Current opinion in psychiatry, 34(6), 515–524. https://doi.org/10.1097/YCO.0000000000000739..
Anorexia nervosa hat die höchste Sterblichkeitsrate aller psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere bei stationärer Behandlung4Auger, N., Potter, B. J., Ukah, U. V., Low, N., Israël, M., Steiger, H., Healy-Profitós, J., & Paradis, G. (2021). Anorexia nervosa and the long-term risk of mortality in women. World psychiatry : official journal of the World Psychiatric Association (WPA), 20(3), 448–449. https://doi.org/10.1002/wps.20904.. Das Sterberisiko kann im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Fünffache oder mehr erhöht sein5van Eeden, A. E., van Hoeken, D., & Hoek, H. W. (2021). Incidence, prevalence and mortality of anorexia nervosa and bulimia nervosa. Current opinion in psychiatry, 34(6), 515–524. https://doi.org/10.1097/YCO.0000000000000739.. Der Fall der 24-jährigen Influencerin Josi Maria, die in jungen Jahren ihren Kampf gegen die Magersucht verlor, verdeutlicht die Tragweite dieser Krankheit. Ihre Geschichte, die durch ein Video Millionen Menschen erreichte, zeigt, wie wichtig es ist, Magersucht als ernsthafte Erkrankung wahrzunehmen und frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Definition der Anorexia nervosa: Was ist Magersucht?
Anorexia nervosa (Magersucht) ist mehr als nur eine Diät oder der Wunsch, schlank zu sein. Diese komplexe psychische Störung zeichnet sich durch Untergewicht, eine intensive Furcht vor einer Gewichtszunahme und eine verzerrte Selbstwahrnehmung aus. Betroffene Personen zeigen ein obsessives Streben nach Schlankheit und gehen dabei oft bis an die Grenzen ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit.
Medizinische Definition der Magersucht
Die medizinische Definition von Anorexia nervosa umfasst eine Reihe spezifischer Kriterien. Zentral ist ein signifikant niedriges Körpergewicht in Bezug auf Alter, Größe und Entwicklungsstadium der Person, das nicht auf andere Erkrankungen oder die Nicht-Verfügbarkeit von Nahrung zurückzuführen ist. Bei Erwachsenen wird häufig ein Body-Mass-Index (BMI) von < 18,5 kg/m² als Schwellenwert herangezogen. Bei Kindern und Jugendlichen liegt der Schwellenwert unterhalb des 5. Perzentils für den altersentsprechenden BMI. Ein schneller Gewichtsverlust, beispielsweise mehr als 20 % des Körpergewichts innerhalb von sechs Monaten, kann als Ersatz für das Kriterium des niedrigen Körpergewichts dienen, sofern andere diagnostische Anforderungen erfüllt sind. Bei Kindern und Jugendlichen kann anstelle eines Gewichtsverlusts ein ausbleibender Gewichtsanstieg im Verhältnis zur individuellen Entwicklungsphase beobachtet werden.
Das niedrige Körpergewicht geht mit anhaltenden Verhaltensweisen einher, die darauf abzielen, eine Normalisierung des Gewichts zu verhindern. Dazu gehören:
- Restriktives Essverhalten: Maßnahmen zur Reduzierung der Energieaufnahme;
- Exzessive Bewegung: Maßnahmen zur Erhöhung des Energieverbrauchs:
- Reinigungsverhalten (Purging): Beispielsweise durch selbst herbeigeführtes Erbrechen oder den Missbrauch von Abführmitteln.
Diese Verhaltensweisen sind typischerweise mit der Angst vor einer Gewichtszunahme verbunden. Weiterhin ist für die Anorexia nervosa charakteristisch, dass das niedrige Körpergewicht oder die schlanke Figur zentral für den Selbstwert der betroffenen Person sind oder fälschlicherweise als normal oder sogar „zu dick“ wahrgenommen werden – trotz objektiver Hinweise auf das Gegenteil.
Diagnosekriterien für Anorexia nervosa
Die Diagnosekriterien für Anorexia nervosa sind in wichtigen medizinischen Klassifikationssystemen wie der ICD-10 (International Classification of Diseases, 10. Revision), der ICD-11 und dem DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Ausgabe) festgelegt. Im Folgenden werden die Kriterien der Anorexia nervosa nach der ICD-11 beschrieben.
Wesentliche (erforderlich) Merkmale nach ICD-11
In der ICD-11 werden die Diagnosekriterien der Anorexia nervosa unter dem Code 6B80 beschrieben. Zu den wesentlichen Merkmalen gehören:
- Deutlich erniedrigtes Körpergewicht: Untergewicht (BMI < 18,5 kg/m² bei Erwachsenen oder BMI für das Alter < 5. Altersperzentile bei Kindern und Jugendlichen) oder schneller Gewichtsverlust (> 20 % in 6 Monaten).
- Ausschluss anderer Ursachen: Das niedrige Körpergewicht darf nicht durch andere medizinische Zustände oder Nahrungsmangel bedingt sein.
- Gewichtsbezogene Verhaltensmuster: Anhaltendes Muster von restriktiven Essverhalten oder Verhaltensweisen, das die Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts verhindert, oft verbunden mit Angst vor einer Gewichtszunahme.
- Übertriebene Beschäftigung mit Gewicht/Form: Übertriebener Einfluss des Körpergewichts und der Figur auf die Selbstbewertung, oft verbunden mit einer falschen Selbstwahrnehmung.
Im Vergleich zur ICD-10 erweitert die ICD-11 das Gewichtskriterium, indem sie den Schwellenwert bei Erwachsenen von einem BMI < 17,5 kg/m² auf < 18,5 kg/m² anhebt. Für Kinder und Jugendliche wird das Kriterium für den BMI nach Alter verschärft, indem Untergewicht nicht mehr unterhalb der 10. Altersperzentile, sondern der 5. Perzentile definiert wird. Damit werden eine breitere Gruppe von Erwachsenen und eine spezifischere Gruppe von Kindern und Jugendlichen erfasst.
Spezifizierungen für Untergewicht nach ICD-11
Untergewicht wird bei Anorexia nervosa als wichtiger prognostischer Faktor mit einem hohen Risiko für körperliche Komplikationen und eine erhöhte Sterblichkeit angesehen. Dabei gibt es zwei Spezifizierungen:
- Anorexia nervosa mit signifikant erniedrigtem Körpergewicht (6B80.0): Erfüllt alle Diagnosekriterien mit einem BMI zwischen 18,5 und 14,0 kg/m² bei Erwachsenen oder zwischen der 5. und 0,3. Perzentile für den BMI nach Alter bei Kindern und Jugendlichen.
- Anorexia nervosa mit kritisch erniedrigtem Körpergewicht (6B80.1): Erfüllt alle Diagnosekriterien mit einem BMI < 14,0 kg/m² bei Erwachsenen oder unter der 0,3. Perzentile für den BMI nach Alter bei Kindern und Jugendlichen. Dieses niedrige Gewicht ist mit einem besonders hohen Risiko verbunden.
Bei Personen, die sich von Anorexia nervosa erholen und ein gesundes Körpergewicht erreicht haben (BMI > 18,5 kg/m² bei Erwachsenen, > 5. Perzentile bei Kindern und Jugendlichen), sollte die Diagnose bestehen bleiben, bis eine vollständige und dauerhafte Genesung erreicht ist. Dazu gehört die Aufrechterhaltung eines gesunden Gewichts und die Beendigung von Verhaltensweisen, die auf eine Reduzierung des Körpergewichts abzielen, über einen längeren Zeitraum (z. B. mindestens 1 Jahr) nach Beendigung der Behandlung.
Spezifizierungen für gewichtsbezogene Verhaltensmuster
Bei Anorexia nervosa können in Bezug auf das Untergewicht verschiedene Verhaltensmuster eine Rolle bei der Auswahl der Behandlungsstrategie und dem klinischen Management spielen sowie den Verlauf und das Ergebnis der Erkrankung beeinflussen.
- Restriktiver Typ (6B80.x0): Bei Personen, die durch eingeschränkte Nahrungsaufnahme oder Fasten allein oder in Kombination mit einem erhöhten Energieverbrauch (z. B. durch exzessive körperliche Aktivität) Gewicht verlieren und niedrig halten, aber keine Essanfälle oder Reinigungsverhalten zeigen.
- Binge-Purge Typ (6B80.x1): Bei Personen mit Episoden von Essanfällen oder Reinigungsverhalten (wie selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, einschließlich derer, die Essanfälle haben, aber nicht entleeren).
Die Spezifizierung nach restriktivem Typ und Binge-Purge-Typ können jeweils auf die Anorexia nervosa mit signifikant erniedrigtem Körpergewicht (6B80.0) und kritisch erniedrigtem Körpergewicht (6B80.1) angewendet werden.
Abgrenzung zu anderen Störungen (Differentialdiagnose)
Im Rahmen der Diagnose von Anorexia nervosa ist die differenzierte Abgrenzung zu anderen Störungen und Zuständen von entscheidender Bedeutung. Generell sollte ein Gewichtsverlust immer ernst genommen werden, da er auf verschiedene ernsthafte Erkrankungen hinweisen kann. Im Folgenden werden einige wichtige Unterschiede und Überlappungen mit anderen psychischen Störungen erläutert.
Abgrenzung zur Bulimia nervosa
Auch Patienten mit Anorexia nervosa können Essanfälle und Reinigungsverhalten zeigen, unterscheiden sich aber von der Bulimia nervosa durch ihr sehr niedriges Körpergewicht. Dabei ist zu beachten, dass es im Verlauf einer Erkrankung Übergänge zwischen den verschiedenen Formen von Essstörungen geben kann6Serra, R., Di Nicolantonio, C., Di Febo, R., De Crescenzo, F., Vanderlinden, J., Vrieze, E., Bruffaerts, R., Loriedo, C., Pasquini, M., & Tarsitani, L. (2022). The transition from restrictive anorexia nervosa to binging and purging: a systematic review and meta-analysis. Eating and weight disorders : EWD, 27(3), 857–865. https://doi.org/10.1007/s40519-021-01226-0.. Wird ein normales Gewicht erreicht, kann die Diagnose nach einem Jahr auf Bulimia nervosa geändert werden, falls weiterhin Binge-Purge-Verhalten auftritt.
Abgrenzung zur vermeidenden/restriktiven Essstörung (ARFID)
Bei Anorexia nervosa wird das restriktive Essverhalten meist durch den Wunsch nach Dünnsein oder die Angst vor einer Gewichtszunahme getrieben. Sollten andere Gründe wie körperliches Unwohlsein oder religiöse Überzeugungen vorliegen, ist die Diagnose Anorexia nervosa nur dann zutreffend, wenn dennoch eine Absicht zur Gewichtsreduktion oder Gewichtsvermeidung erkennbar ist. Ändert sich das Essverhalten und kommt es zu einer Gewichtszunahme, ohne dass Sorgen um Gewicht oder Körperform auftreten, sollte die Diagnoseänderung zu einer vermeidenden/restriktiven Essstörung überprüft werden.
Abgrenzung zu Schizophrenie oder anderen primären Psychosen
Ungewöhnliche oder nachweislich unwahre Überzeugungen bei Anorexia nervosa, die sich auf Essen, Gewicht und Körperform beschränken, rechtfertigen keine zusätzliche Diagnose einer psychotischen Störung. Sind jedoch andere Wahnvorstellungen oder psychotische Symptome vorhanden, kann eine separate Diagnose einer primären Psychose gerechtfertigt sein.
Abgrenzung zu Zwangsstörungen
Bei Anorexia nervosa können wiederholte Gedanken und Verhaltensweisen bezüglich Gewicht, Figur oder Ernährung auftreten, die einer Obsession ähneln. Sollten sich diese jedoch ausschließlich auf die Sorge um das Gewicht, die Figur oder das Essen beschränken, ist eine zusätzliche Diagnose einer Zwangsstörung nicht angebracht.
Abgrenzung zu körperdysmorphen Störungen
Körperdysmorphe Störungen konzentrieren sich auf spezifische Körperteile oder -merkmale abseits von Gewicht, Körperform oder Größe und umfassen keine Essstörungen oder einen deutlichen Gewichtsverlust. Ist jedoch die Idealisierung eines niedrigen Körpergewichts zentral und das Gewicht ausreichend niedrig, sollte Anorexia nervosa anstelle einer körperdysmorphen Störung diagnostiziert werden.
Die Anorexia nervosa muss mit einem für die Größe, das Alter, den Entwicklungsstand oder die Gewichtshistorie der Person signifikant niedrigen Körpergewicht und mit extremen Einstellungen und Verhaltensweisen einhergehen, die sich von normalen Diäten und „normativer Unzufriedenheit“ mit der eigenen Körperform und dem eigenen Körpergewicht unterscheiden.
Magersucht Symptome: Was sind Anzeichen und typisches Verhalten?
Magersucht ist durch eine Reihe von physischen und psychischen Symptomen gekennzeichnet. Zu den körperlichen Anzeichen gehören deutliches Untergewicht und Veränderungen im Essverhalten. Psychisch äußert sich die Krankheit oft in einer verzerrten Selbstwahrnehmung und einer starken Angst vor einer Gewichtszunahme. Zusätzlich können sich Verhaltensweisen entwickeln, die auf die weitere Reduzierung des Körpergewichts abzielen.
Körperliche Symptome bei Anorexia nervosa
Magersucht zeigt sich in einer Vielzahl von körperlichen Symptomen. Das zentrale Anzeichen ist das deutlich reduzierte Körpergewicht, das unter dem normalen Bereich für das Alter, Geschlecht und die Körpergröße der betroffenen Person liegt. Dies äußert sich in sichtbarer Abmagerung, bei der ein Mangel an Fett- und Muskelmasse erkennbar wird.
Zu den weiteren möglichen klinischen Anzeichen zählen:
- Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation bei Frauen): Unregelmäßige oder ausbleibende Menstruation aufgrund von Mangelernährung.
- Verlangsamte Herzfrequenz und niedriger Blutdruck: Aufgrund des Mangels an Nährstoffen und der verringerten Herzleistung (potenziell lebensbedrohlich).
- Trockene Haut: Trockene, rissige und schuppige Haut infolge von Dehydration und Nährstoffmangel wie essenziellen Fettsäuren und Vitaminen.
- Haarausfall: Aufgrund des Mangels an Proteinen, essenziellen Fettsäuren und Spurenelemente wie Eisen. Die Haare können brüchig werden und ausfallen.
- Konzentrationsschwierigkeiten: Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen (Konzentration, Gedächtnis) aufgrund der Mangelernährung.
- Zahnschäden und Russell’s Sign: Zahnschäden wie Erosion des Zahnschmelzes und Karies sowie Schwielen am Handrücken infolge wiederholten Erbrechens.
- Vergrößerung der Speicheldrüsen: Schwellung der Ohr- und Zungengrund-Speicheldrüsen als Folge von wiederholtem selbstinduziertem Erbrechen.
- Proximale Muskelschwäche: Schwächung der Muskulatur in den zentralen Körperbereichen, was das Stehen und Gehen beeinträchtigen kann.
- Kälteunverträglichkeit: Da der Körper aufgrund des geringen Körperfettanteils und des Energiemangels Schwierigkeiten hat, seine Temperatur zu regulieren.
- Wachstum von Lanugohaar: Feines, flaumiges Körperhaar, ähnlich dem von Neugeborenen, das wegen des Mangels an Fett und Wärmeisolierung wächst.
- Akrozyanose: Bläuliche Verfärbung der Finger und Zehen aufgrund des niedrigen Blutdrucks und der verringerten Durchblutung.
- Periphere Ödeme: Schwellungen an den Extremitäten wie Händen und Füßen, oft ein Zeichen von Flüssigkeitsungleichgewichten.
Diese Symptome bei Anorexia nervosa sind ein deutlicher Hinweis auf die Schwere der Erkrankung. Sie zeigen, wie der Körper auf die extrem reduzierte Nahrungsaufnahme und den daraus resultierenden Nährstoffmangel reagiert. Neben den unmittelbaren körperlichen Auswirkungen können diese Symptome auch langfristige gesundheitliche Folgen haben, die eine umfassende medizinische Behandlung und Betreuung erfordern.
Typisches Verhalten bei Magersucht
Magersüchtige erleben häufig eine tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Körper und eine ständige Angst davor, zu dick zu sein bzw. zu werden. Dies äußerst sich meist in einem Anorexie-typischen, restriktiven Essverhalten, Kontrollverhalten und ggf. Reinigungsverhalten (Purging). All diese Verhaltensweisen dienen dem Ziel, Gewicht zu verlieren oder zumindest nicht zuzunehmen.
Anorexie-typisches Essverhalten
Personen mit Anorexia nervosa üben eine rigide Kontrolle über ihre Nahrungszufuhr aus. Sie nehmen nur wenig Nahrung zu sich, wählen Nahrung hochselektiv aus, indem sie sich z. B. intensiv über kalorienarme Lebensmittel informieren, und meiden vor allem fett- und/oder kohlenhydratreiche Nahrung. Häufig entwickeln sie detaillierte Essrituale. Anorexie-typisches Essverhalten zur Einschränkung der Nahrungszufuhr umfasst dabei u. a.:
- Reduzierung der Kalorienzufuhr: Auslassen von Nachtisch oder ganzer Mahlzeiten, Fasten, Auswahl besonders kalorienarmer Lebensmittel, Meiden hochkalorischer, fetthaltiger oder kohlenhydrathaltiger Nahrungsmittel, Einsatz von Süßstoffen, Fettersatzstoffen und Light-Produkten.
- Überwachung und Kontrolle der Nahrungsaufnahme: Erwerb von Kalorienwissen, Abwiegen von Lebensmitteln, Kalorienzählen, Vermeiden von Nahrung, deren Kaloriengehalt nicht eindeutig bestimmbar ist (z. B. gekochte komplexe Speisen), Essen kleiner Nahrungsmengen, sehr langsames Essen.
- Manipulation der Nahrung: Kleinschneiden und akribisches Anordnen der Nahrung, Kauen und Ausspucken von Nahrung, Verstecken von Nahrung.
- Manipulation der Flüssigkeitszufuhr: Exzessives Trinken vor Mahlzeiten, um den Hunger zu dämpfen oder die bewusste Flüssigkeitsrestriktion zur Erzeugung von Mundtrockenheit und Erschwerung der Nahrungsaufnahme.
- Festgelegte Essenszeiten: Definierte Zeitfenster für Mahlzeiten und Snacks, strenge Vorgaben, wann das Essen erlaubt oder verboten ist (z. B. Beschränkung der Nahrungszufuhr auf eine einzige Mahlzeit pro Tag oder ein selbstauferlegter Mahlzeitenrhythmus mit einer Vielzahl von Kleinstmahlzeiten).
- Einsatz von Appetitzüglern: Missbrauch von pharmakologischen Appetitzüglern, Nikotin, Kokain oder anderer Stimulantien zur Appetitkontrolle.
- Überwürzen von Speisen: Durch Versalzen, scharfe Gewürze etc., um sie ungenießbar zu machen, was ebenfalls die Nahrungsaufnahme erschwert.
- Ekelkonditionierungen: Nutzen von Ekelkonditionierungen, um die Zufuhr von attraktiven Lebensmitteln zu blockieren, z. B. durch die Vorstellung, dass Schokolade durch Mäusekot verunreinigt ist.
Neben diesen Essritualen gibt es weitere Verhaltensweisen, die das restriktive Essverhalten bei Anorexia nervosa kennzeichnen. Manche Personen nutzen beengende Kleidung, einengende Bauchgürtel oder Muskelanspannung, um ein frühzeitiges Völlegefühl beim Essen zu erzeugen. Andere vermeiden das Essen in Gesellschaft, um die Nahrungsaufnahme besser kontrollieren zu können und Ablenkungen oder soziale Einflüsse beim Essen zu vermeiden. Auch das Tragen von Zungenpiercings und andere Selbstverletzungen im Mundraum sind eine mögliche Methode, um die Nahrungsaufnahme zu erschweren. Zudem erleben einige Betroffene teilweise sog. „subjektive Essanfälle“, bei denen sie das Gefühl haben, übermäßig zu essen, auch wenn dies objektiv nicht der Fall ist.
Gewichtskontrolle (Checking Behaviour)
„Checking Behavior“ ist ein typisches Verhaltensmuster bei Anorexia nervosa, das sich durch häufiges Überprüfen des eigenen Körpers auszeichnet. Dieses Verhalten dient oft dazu, die Motivation für Nahrungsrestriktion aufrechtzuerhalten und umfasst verschiedene Aktivitäten:
- Hochfrequentes Wiegen, oft mehrmals täglich, um Veränderungen des Körpergewichts genau im Auge zu behalten.
- Engmaschige Kontrolle des Umfangs von Körperteilen mit Maßbändern.
- Messung der Hautfaltendicke, um Veränderungen in der Fettverteilung festzustellen.
- Intensive Überprüfung des eigenen Aussehens im Spiegel, manchmal stundenlang, um mögliche Veränderungen oder Anzeichen von Gewichtszunahme zu erkennen.
Solche Verhaltensweisen können zu einer obsessiven Beschäftigung mit dem Körperbild führen und verstärken die krankhaften Denkmuster und Ängste, die mit Anorexia nervosa einhergehen. Checking Behavior sollte daher als ein Symptom der Erkrankung und nicht einfach als „normale“ Selbstkontrolle angesehen werden.
Purging-Verhalten
Bei der Gewichtskontrolle von Personen mit Anorexia nervosa kommen neben einem restriktiven Essverhalten verschiedene aktive, körpermanipulative Maßnahmen zum Einsatz. Diese umfassen eine Reihe von Verhaltensweisen und Praktiken, die darauf abzielen, das Körpergewicht weiter zu reduzieren oder eine Gewichtszunahme zu verhindern. Das gegensteuernde Verhalten umfasst:
- Selbstinduziertes Erbrechen: Gezieltes Erbrechen zur Verhinderung der Nahrungsaufnahme (durch mechanische Reizung des Rachenraums, chemische Substanzen, die Erbrechen fördern oder automatisiert).
- Missbrauch von Abführmitteln: Einsatz von pflanzlichen oder synthetisch hergestellten Laxanzien und Einläufen zur Beschleunigung der Darmpassage bzw. Darmentleerung und Verringerung der Nahrungsaufnahme.
- Missbrauch von Diuretika: Verwendung von pflanzlichen oder synthetisch hergestellten wassertreibenden Substanzen/Medikamenten zur Förderung der Urinausscheidung und Reduktion des Körpergewichts durch Wasserverlust.
- Missbrauch von Schilddrüsenhormonen: Einnahme von Präparaten mit Schilddrüsenhormonen zur Steigerung des Stoffwechsels (Grundumsatz).
- Weglassen von Insulinspritzen bei Typ-1-Diabetes: Verzicht auf Insulindosen zur Verhinderung der Glucoseaufnahme in die Körperzellen, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden (Insulin-Purging).
- Übermäßige körperliche Aktivität: Intensiver Bewegungsdrang und exzessive sportliche Betätigung zur Kalorienverbrennung.
- Absichtliche Kälteeinwirkung: Gezielte Exposition gegenüber Kälte, um den Kalorienverbrauch durch die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Körpertemperatur zu erhöhen.
- Absichtliche Hitzeeinwirkung: Nutzung von Saunen oder anderen Wärmequellen zur Steigerung des Kalorienverbrauchs durch erhöhte Schweißproduktion und Körpertemperaturregulierung.
All diese Verhaltensweisen können im Krankheitsverlauf eskalieren und zu einem Teufelskreis führen. Bei einem sehr niedrigen Gewicht können bei manchen Betroffenen Heißhunger- oder Essanfälle auftreten, die oft von starken Schuldgefühlen begleitet werden. In der Folge intensivieren die Betroffenen ihr restriktives und purgatives Verhalten noch weiter, was den Zyklus aus Essanfällen und anschließendem Purging fortsetzt. Diese Muster der Gewichtskontrolle und des Purging-Verhaltens verdeutlichen die komplexen und oft selbstschädigenden Strategien, die Betroffene im Kampf gegen die Gewichtszunahme anwenden. Diese gefährliche Spirale kann die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen erheblich beeinträchtigen und erfordert dringende professionelle Hilfe.
Psychische Symptome und Verhaltensmuster
Die Anorexia nervosa ist eine ernsthafte psychische Erkrankung, die durch komplexe und vielschichtige psychische Symptome und Verhaltensmuster charakterisiert wird. Sie umfasst eine tiefgreifende Störung des Körperbildes sowie eine Reihe von emotionalen und kognitiven Herausforderungen.
Gestörte Selbstwahrnehmung
Ein zentrales Merkmal der Anorexia nervosa ist eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpergewichts und der Körperform. Trotz des objektiven Untergewichts leiden viele Betroffene unter einer tief verwurzelten Angst, dick zu sein oder zu werden. Infolgedessen ergreifen sie absichtliche Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Untergewichts, auch wenn die Angst vor einer Gewichtszunahme nicht explizit geäußert wird. Dies manifestiert sich in einer übermäßigen Beschäftigung mit dem eigenen Körpergewicht oder der Körperform, einschließlich wiederholter Kontrollen wie ständigem Wiegen, Messen von Körperumfängen und Überprüfen der Figur im Spiegel. In einigen Kulturkreisen kann die Nahrungseinschränkung mit Magen-Darm-Beschwerden oder kulturellen bzw. religiösen Praktiken wie Fasten oder spezifische Ernährungsregeln argumentiert werden. Kinder können dazu neigen, die Nahrungsaufnahme mit Ausreden wie „kein Hunger“ oder „Bauchschmerzen“ und durch nonverbale Nahrungsverweigerung zu meiden. Dennoch liegt auch in diesen Fällen oft eine starke Fokussierung auf das Gewicht oder die Körperform zugrunde.
Emotionale Belastung und Kontrollverhalten
Das Selbstwertgefühl von Magersüchtigen ist übermäßig stark mit der Zahl auf der Waage und ihrer Körperform verknüpft, wodurch ihre Gedanken unaufhörlich um Essen, Gewicht und Figur kreisen. Diese übertriebene Fokussierung auf das Körperbild geht oft mit den erwähnten Anorexie-typischen Verhaltensweisen einher, die i. d. R. vor anderen verborgen werden. Dies führt häufig zu sozialem Rückzug und Isolation, was einen ungezwungenen Austausch mit anderen Menschen zunehmend erschwert. Der Gewichtsverlust wird von den Betroffenen anfangs oft mit positiven Gefühlen wie Euphorie, Leichtigkeit und Kontrolle erlebt. Im weiteren Verlauf und im zwischenmenschlichen Kontakt können jedoch Reizbarkeit, rigide Denkmuster und ein starkes Kontrollbedürfnis beobachtet werden, die sich nicht nur auf die Nahrungsaufnahme, sondern auch auf andere Lebensbereiche erstrecken können. Die psychische Belastung, die aus der Erkrankung resultiert, kann zu negativen Emotionen wie Ängsten, Depressivität und Gleichgültigkeit bis hin zu Zwängen führen, was die Herausforderung für die Betroffenen und ihr Umfeld weiter verstärkt.
Fehlende Krankheitseinsicht und Verleugnung
Viele Betroffene von Anorexia nervosa sind sich der Schwere ihres Zustands nicht bewusst und tendieren dazu, ihre Unterernährung und die Ernsthaftigkeit ihrer Erkrankung zu verleugnen. Dabei ignorieren sie oft objektive Beweise für ihr tatsächliches Gewicht, was die Behandlung und den Heilungsprozess erheblich erschweren kann. Die fehlende Krankheitseinsicht äußert sich häufig in extremem Vermeidungsverhalten, wie beispielsweise der Verweigerung, zu Hause Spiegel zu nutzen, der Vermeidung eng anliegender Kleidung oder der Weigerung, das eigene Körpergewicht zu kennen. Auch das Kaufen von Kleidung in bestimmten Größen kann abgelehnt werden. Diese Anzeichen spiegeln die tief verwurzelte Verleugnung ihrer körperlichen Realität wider, was eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Bewältigung der Magersucht darstellt.
Die Symptomatik der Anorexia nervosa beschränkt sich nicht nur auf offensichtliches Untergewicht. Vielmehr beinhaltet sie eine Reihe komplexer und selbstschädigender Verhaltensweisen wie restriktives Essverhalten, Purging-Maßnahmen und eine verzerrte Körperwahrnehmung. Diese vielschichtigen Symptome unterstreichen, wie tiefgreifend die Störung sowohl den Körper als auch den Geist der Betroffenen beeinträchtigt. Ein effektiver Behandlungsansatz muss daher sowohl die physischen als auch die psychischen Aspekte der Erkrankung umfassend adressieren.
Magersucht Ursachen: Wie entsteht Anorexia nervosa?
Anorexia nervosa hat vielfältige und komplexe Ursachen, die durch das Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und soziokulturellen Risikofaktoren beeinflusst werden7Barakat, S., McLean, S. A., Bryant, E., Le, A., Marks, P., National Eating Disorder Research Consortium, Touyz, S., & Maguire, S. (2023). Risk factors for eating disorders: findings from a rapid review. Journal of eating disorders, 11(1), 8. https://doi.org/10.1186/s40337-022-00717-4.. Diese Faktoren sind mit dem Auftreten, der Entwicklung und dem Verlauf von Anorexia nervosa verbunden und können von Person zu Person variieren. Daher ist es entscheidend, jeden Fall der Erkrankung als einzigartig und ganzheitlich zu betrachten.
Biologische Risikofaktoren
Die biologischen Risikofaktoren für Anorexia nervosa umfassen genetische Prädispositionen, neurobiologische Veränderungen, physiologische Aspekte und das Darmmikrobiom. Diese Faktoren können die Anfälligkeit für die Entwicklung von Anorexia nervosa erhöhen.
Genetische Prädispositionen
Studien zeigen, dass Anorexia nervosa häufiger bei Personen auftritt, deren Familienmitglieder ebenfalls von der Störung betroffen sind8Thornton, L. M., Mazzeo, S. E., & Bulik, C. M. (2011). The heritability of eating disorders: methods and current findings. Current topics in behavioral neurosciences, 6, 141–156. https://doi.org/10.1007/7854_2010_91.. Dies deutet auf eine signifikante genetische Komponente hin. Genetische Untersuchungen haben spezifische Genvarianten identifiziert, die mit Risikofaktoren wie einem niedrigen BMI, Körperunzufriedenheit und dem Streben nach Dünnsein in Verbindung stehen. Diese genetischen Faktoren umfassen Polymorphismen in Genen, die mit der Appetitregulation, dem Stoffwechsel, dem Serotonin- und Dopamin-Neurotransmittersystemen sowie dem Belohnungssystem zusammenhängen und somit direkt mit Anorexia nervosa assoziiert sind.
Neurobiologische Faktoren
Bei Personen mit Anorexia nervosa wurden Veränderungen in bestimmten Hirnstrukturen und Neurotransmitter-Systemen beobachtet, insbesondere in Bereichen, die mit der Belohnungsverarbeitung, Appetitregulation und emotionalen Prozessen zusammenhängen9Zhong, S., Su, T., Gong, J., Huang, L., & Wang, Y. (2023). Brain functional alterations in patients with anorexia nervosa: A meta-analysis of task-based functional MRI studies. Psychiatry research, 327, 115358. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2023.115358.. Diese neurobiologischen Abweichungen können die Regulation von Hunger und Sättigung sowie emotionale und kognitive Prozesse beeinflussen. Störungen in Serotonin- und Dopamin-Belohnungswegen können dazu führen, dass Personen mit Anorexia nervosa restriktives Essverhalten als Mechanismus zur Angstreduktion anwenden.
Pränatale Expositionen
Anorexia nervosa kann durch verschiedene pränatale Faktoren beeinflusst werden. Die Forschung deutet darauf hin, dass pränatale Expositionen wie hohe Cortisolspiegel durch mütterlichen Stress und ein niedriges Geburtsgewicht das Risiko für Anorexia nervosa erhöhen können. Frühgeburten und daraus resultierende strukturelle Gehirnveränderungen sind ebenfalls mit einem höheren Risiko verbunden. Einflüsse wie der Gebrauch von Substanzen (z. B. Nikotin) während der Schwangerschaft und mütterliche Krankheiten, die zu Mangelernährung führen, wurden ebenfalls als Risikofaktoren identifiziert. Diese pränatalen Faktoren spielen eine mögliche Rolle für das Risiko, später an Anorexia nervosa zu erkranken.10Sebastiani, G., Andreu-Fernández, V., Herranz Barbero, A., Aldecoa-Bilbao, V., Miracle, X., Meler Barrabes, E., Balada Ibañez, A., Astals-Vizcaino, M., Ferrero-Martínez, S., Gómez-Roig, M. D., & García-Algar, O. (2020). Eating Disorders During Gestation: Implications for Mother's Health, Fetal Outcomes, and Epigenetic Changes. Frontiers in pediatrics, 8, 587. https://doi.org/10.3389/fped.2020.00587.
Physiologische Aspekte
Hormonelle Veränderungen während der Pubertät spielen eine signifikante Rolle bei der Entwicklung von Anorexia nervosa. Die Pubertät ist eine besonders riskante Phase für die Entstehung von Essstörungen bei beiden Geschlechtern. Die verstärkte Produktion von Geschlechtshormonen, insbesondere Östrogen, während dieser Zeit steht im Zusammenhang mit dem Beginn von Essstörungen11Klump K. L. (2013). Puberty as a critical risk period for eating disorders: a review of human and animal studies. Hormones and behavior, 64(2), 399–410. https://doi.org/10.1016/j.yhbeh.2013.02.019..
Darmmikrobiom
Aktuelle Studien zeigen, dass eine mikrobielle Dysbiose, also ein Ungleichgewicht im Darmmikrobiom, bei Anorexia nervosa eine Rolle spielen könnte12Reed, K. K., Abbaspour, A., Bulik, C. M., & Carroll, I. M. (2021). The intestinal microbiota and anorexia nervosa: cause or consequence of nutrient deprivation. Current opinion in endocrine and metabolic research, 19, 46–51. https://doi.org/10.1016/j.coemr.2021.06.003. 13Morita, C., Tsuji, H., Hata, T., Gondo, M., Takakura, S., Kawai, K., Yoshihara, K., Ogata, K., Nomoto, K., Miyazaki, K., & Sudo, N. (2015). Gut Dysbiosis in Patients with Anorexia Nervosa. PloS one, 10(12), e0145274. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0145274. 14Zang, Y., Lai, X., Li, C., Ding, D., Wang, Y., & Zhu, Y. (2023). The Role of Gut Microbiota in Various Neurological and Psychiatric Disorders-An Evidence Mapping Based on Quantified Evidence. Mediators of inflammation, 2023, 5127157. https://doi.org/10.1155/2023/5127157.. Insbesondere eine erhöhte Konzentration des Proteins ClpB, das von E. Coli-Bakterien produziert wird und die Ausschüttung des Sättigungspeptids YY anregt, wurde bei Magersuchtpatienten beobachtet15Ruusunen, A., Rocks, T., Jacka, F., & Loughman, A. (2019). The gut microbiome in anorexia nervosa: relevance for nutritional rehabilitation. Psychopharmacology, 236(5), 1545–1558. https://doi.org/10.1007/s00213-018-5159-2. 16Breton, J., Déchelotte, P. & Ribet, D. (2019). Intestinal microbiota and Anorexia Nervosa,
Clinical Nutrition Experimental, 28, 11–21. https://doi.org/10.1016/j.yclnex.2019.05.001.. Diese Veränderungen im Darmmikrobiom könnten zur gestörten Appetitregulation bei Anorexia nervosa beitragen.
Autoimmunerkrankungen
Autoimmun- und autoinflammatorische Erkrankungen, wie Morbus Crohn, entzündliche Darmerkrankungen, Diabetes sowie Zöliakie, können das Risiko für Anorexia nervosa erhöhen17Yang, Q., Kennicott, K., Zhu, R., Kim, J., Wakefield, H., Studener, K., & Liang, Y. (2023). Sex hormone influence on female-biased autoimmune diseases hints at puberty as an important factor in pathogenesis. Frontiers in pediatrics, 11, 1051624. https://doi.org/10.3389/fped.2023.1051624.. Die Wechselwirkung zwischen diesen Erkrankungen und der Darmflora kann zu einer Beeinträchtigung der Regulationsmechanismen für Appetit und Sättigung führen, was das Risiko für Anorexia nervosa erhöht.
Psychologische Risikofaktoren
Die psychologischen Aspekte von Anorexia nervosa setzen sich aus individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, Lebenserfahrungen und komorbiden psychischen Erkrankungen zusammen. Diese Faktoren beeinflussen einander und können die Anfälligkeit für die Entwicklung der Magersucht erhöhen. Zudem spielen sie eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Schwere der Symptome, das Ansprechen auf die Behandlung und das Risiko eines Rückfalls.
Persönlichkeitsmerkmale
Personen mit Anorexia nervosa zeigen oft spezifische Persönlichkeitsmerkmale18Levallius, J., Clinton, D., Bäckström, M., & Norring, C. (2015). Who do you think you are? – Personality in eating disordered patients. Journal of eating disorders, 3, 3. https://doi.org/10.1186/s40337-015-0042-6.. Beim restriktiven Typ sind Perfektionismus und Obsession häufig, gekennzeichnet durch das Setzen unrealistisch hoher Standards und eine überkritische Selbsteinschätzung. Diese Eigenschaften können zu einem überkontrollierten Verhalten führen, welches restriktive Essgewohnheiten fördert. Obsessivität ist ebenfalls stark mit Magersucht assoziiert, insbesondere mit einem starken Drang zum Dünnsein. Im Gegensatz dazu ist der Binge-Purge-Typ oft mit Impulsivität und einer größeren emotionalen Dysregulation verbunden, die sich in unkontrollierten Essanfällen und nachfolgendem Reinigungsverhalten äußern können.
Vernachlässigung, Missbrauch und Trauma
Kindheitstraumata, einschließlich Vernachlässigung, körperlicher Missbrauch und psychische Gewalt, sind wesentliche Risikofaktoren für die Entwicklung von Anorexia nervosa, sowohl für den restriktiven als auch für den Binge-Purge-Typ. Besonders emotionaler Missbrauch kann langfristige psychische Folgen haben und die Anfälligkeit für Anorexia nervosa verstärken. Diese traumatischen Erlebnisse beeinflussen oft das Selbstwertgefühl und die Fähigkeit zur Emotionsregulation, was wiederum die Entstehung der Essstörung begünstigen kann19Prefit, A. B., Cândea, D. M., & Szentagotai-Tătar, A. (2019). Emotion regulation across eating pathology: A meta-analysis. Appetite, 143, 104438. https://doi.org/10.1016/j.appet.2019.104438.. Obwohl diese Erfahrungen nicht spezifisch nur für Anorexia nervosa sind, zeigen sie eine starke Verbindung zu Essstörungen, einschließlich des Binge-Purge-Typs.
Komorbide psychische Störungen
Anorexia nervosa geht häufig mit komorbiden psychischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen, einschließlich sozialer Angststörungen und Zwangsstörungen, einher20Alcaraz-Ibáñez, M., Paterna, A., & Griffiths, M. D. (2023). Social physical anxiety and eating disorders: A systematic review and meta-analysis. Body image, 45, 133–141. https://doi.org/10.1016/j.bodyim.2023.02.008. 21Yilmaz, Z., Schaumberg, K., Halvorsen, M., Goodman, E. L., Brosof, L. C., Crowley, J. J., Anorexia Nervosa Genetics Initiative, Eating Disorders Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium, Tourette Syndrome/Obsessive-Compulsive Disorder Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium, Mathews, C. A., Mattheisen, M., Breen, G., Bulik, C. M., Micali, N., & Zerwas, S. C. (2023). Predicting eating disorder and anxiety symptoms using disorder-specific and transdiagnostic polygenic scores for anorexia nervosa and obsessive-compulsive disorder. Psychological medicine, 53(7), 3021–3035. https://doi.org/10.1017/S0033291721005079.. Diese Störungen können die Entwicklung von Magersucht beeinflussen, indem sie emotionale Labilität und Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation verstärken. Zudem gibt es Hinweise, dass Angststörungen in der Kindheit häufig der Entwicklung von Anorexia nervosa vorausgehen22Yilmaz, Z., Schaumberg, K., Halvorsen, M., Goodman, E. L., Brosof, L. C., Crowley, J. J., Anorexia Nervosa Genetics Initiative, Eating Disorders Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium, Tourette Syndrome/Obsessive-Compulsive Disorder Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium, Mathews, C. A., Mattheisen, M., Breen, G., Bulik, C. M., Micali, N., & Zerwas, S. C. (2023). Predicting eating disorder and anxiety symptoms using disorder-specific and transdiagnostic polygenic scores for anorexia nervosa and obsessive-compulsive disorder. Psychological medicine, 53(7), 3021–3035. https://doi.org/10.1017/S0033291721005079.. Darüber hinaus kann Magersucht durch die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen wie Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus-Spektrum-Störung (ASS)23Saure, E., Laasonen, M., Lepistö-Paisley, T., Mikkola, K., Ålgars, M., & Raevuori, A. (2020). Characteristics of autism spectrum disorders are associated with longer duration of anorexia nervosa: A systematic review and meta-analysis. The International journal of eating disorders, 53(7), 1056–1079. https://doi.org/10.1002/eat.23259. in ihrer Symptomatik verschärft und in der Behandlung komplizierter werden.
Soziokulturelle Faktoren
Soziale und kulturelle Einflüsse erstrecken sich über verschiedene Bereiche, einschließlich familiärer Beziehungen, gesellschaftlicher Normen und Umweltbedingungen. Diese Faktoren können gleichzeitig auch als Risikofaktoren wirken und maßgeblich zur Entstehung und Entwicklung von Anorexia nervosa beitragen.
Elterliche Einflüsse und familiäre Beziehungen
Das familiäre Umfeld und insbesondere die Qualität der Beziehung zu den Eltern ist ein wesentlicher Einflussfaktor im Risikoprofil für Anorexia nervosa. Ein Mangel an elterlicher Wärme und emotionaler Verbundenheit sowie dysfunktionale familiäre Dynamiken können das Risiko für die Entwicklung dieser Essstörung erhöhen. Kinder, deren Eltern ein starkes Streben nach Schlankheit und Perfektionismus aufweisen, sind ebenfalls gefährdet. Auch die elterliche Wahrnehmung des Kindes als übergewichtig und Hänseleien über dessen Gewicht können das Risiko für die Entwicklung der Magersucht, insbesondere des Binge-Purge-Typs, verstärken. Ein niedriger BMI in der Kindheit, beeinflusst durch elterliche Einstellungen zu Gewicht und Essverhalten, kann ebenfalls ein Risikofaktor sein, was die Bedeutung der frühkindlichen körperlichen Entwicklung und Ernährungsgewohnheiten unterstreicht. Zudem erhöht das Vorliegen von Essstörungen bei den Eltern selbst, gepaart mit ihren Ernährungsgewohnheiten und Kommunikationsstilen über Essen und Körperbild, das Risiko für Anorexia nervosa bei ihren Kindern.
Mediale Einflüsse
Soziale Medien als auch traditionelle Medien, spielen eine wichtige Rolle dabei, wie Menschen ihr Körperbild wahrnehmen. Inhalte, die das Schlankheitsideal und perfekte Körperbilder fördern, wie beispielsweise „Thinspiration“ und „Fitspiration“ in sozialen Netzwerken, können zu einer erhöhten Körperunzufriedenheit und einer Überbewertung von Gewicht und Körperform führen. Dies ist besonders relevant bei jungen Menschen, bei denen eine ständige Exposition gegenüber solchen Idealen zu unrealistischen Körperbildern beitragen kann. Studien zeigen, dass sowohl Männer als auch Frauen von medialen Darstellungen idealisierter Körperbilder beeinflusst werden, wobei dieser Einfluss bei Risikogruppen für Essstörungen stärker ausgeprägt ist24Mushtaq, T., Ashraf, S., Hameed, H., Irfan, A., Shahid, M., Kanwal, R., Aslam, M. A., Shahid, H., Koh-E-Noor, Shazly, G. A., Khan, M. A., & Jardan, Y. A. B. (2023). Prevalence of Eating Disorders and Their Association with Social Media Addiction among Youths. Nutrients, 15(21), 4687. https://doi.org/10.3390/nu15214687.. Zudem kann der intensive Gebrauch von sozialen Medien, insbesondere von Inhalten, die sich auf Aussehen und Körperbild konzentrieren, das Risiko für die Entwicklung von Anorexia nervosa erhöhen25Dane, A., & Bhatia, K. (2023). The social media diet: A scoping review to investigate the association between social media, body image and eating disorders amongst young people. PLOS global public health, 3(3), e0001091. https://doi.org/10.1371/journal.pgph.0001091..
Pubertät und frühzeitige Entwicklung
Der frühe Eintritt in die Pubertät, charakterisiert durch eine vorzeitige Menarche, kann das Risiko für Anorexia nervosa, besonders beim restriktiven Typ, erhöhen. Die Pubertät ist ein sensibles Entwicklungsstadium großer körperlicher und emotionaler Veränderungen. Wenn körperliche Veränderungen des Gewichts oder der Figur früher als bei Gleichaltrigen auftreten, kann dies zu einer erhöhten Unzufriedenheit mit dem Körper führen. Der Einfluss der Pubertät ist bei Mädchen möglicherweise ausgeprägter als bei Jungen, da die Veränderungen der Körperform bei Mädchen sich tendenziell vom vorherrschenden Schlankheitsideal entfernen, während sie sich bei Jungen eher dem muskulösen Ideal annähern.
Bildungsniveau und sozioökonomischer Status
Untersuchungen zeigen, dass Anorexia nervosa über verschiedene sozioökonomische Schichten hinweg auftritt, obwohl höhere Bildungsabschlüsse und ein höherer sozioökonomischer Status speziell mit dem restriktiven Typ dieser Essstörung assoziiert sein können26Mulders-Jones, B., Mitchison, D., Girosi, F., & Hay, P. (2017). Socioeconomic Correlates of Eating Disorder Symptoms in an Australian Population-Based Sample. PloS one, 12(1), e0170603. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0170603. 27Koch, S. V., Larsen, J. T., Plessen, K. J., Thornton, L. M., Bulik, C. M., & Petersen, L. V. (2022). Associations between parental socioeconomic-, family-, and sibling status and risk of eating disorders in offspring in a Danish national female cohort. The International journal of eating disorders, 55(8), 1130–1142. https://doi.org/10.1002/eat.23771. 28Huryk, K. M., Drury, C. R., & Loeb, K. L. (2021). Diseases of affluence? A systematic review of the literature on socioeconomic diversity in eating disorders. Eating behaviors, 43, 101548. https://doi.org/10.1016/j.eatbeh.2021.101548.. Höhere Bildungsniveaus der Eltern und Großeltern mütterlicherseits wurden mit einer höheren Inzidenz von Anorexia nervosa in Verbindung gebracht29Ahrén-Moonga, J., Silverwood, R., Klinteberg, B. A., & Koupil, I. (2009). Association of higher parental and grandparental education and higher school grades with risk of hospitalization for eating disorders in females: the Uppsala birth cohort multigenerational study. American journal of epidemiology, 170(5), 566–575. https://doi.org/10.1093/aje/kwp166. 30Goodman, A., Heshmati, A., & Koupil, I. (2014). Family history of education predicts eating disorders across multiple generations among 2 million Swedish males and females. PloS one, 9(8), e106475. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0106475.. Diese Erkenntnisse legen nahe, dass Anorexia nervosa zwar nicht nur auf wohlhabendere Bevölkerungsgruppen beschränkt ist, aber bestimmte sozioökonomische und Bildungshintergründe das Risiko für diese spezifische Essstörung beeinflussen können.
Leistungssport
Die Teilnahme am Leistungssport, insbesondere in Disziplinen, die ein niedriges Körperfett und strenge Diäten betonen, kann das Risiko für Anorexia nervosa erhöhen. Studien weisen darauf hin, dass Essstörungen unter Leistungssportlern häufiger vorkommen, besonders in gewichtsensiblen Sportarten, in denen ein niedriges Körpergewicht möglicherweise zu Vorteilen im direkten Wettkampf mit anderen Sportlern beiträgt31Kussman, A., & Choo, H. J. (2024). Mental Health and Disordered Eating in Athletes. Clinics in sports medicine, 43(1), 71–91. https://doi.org/10.1016/j.csm.2023.07.001. 32Chapa, D. A. N., Johnson, S. N., Richson, B. N., Bjorlie, K., Won, Y. Q., Nelson, S. V., Ayres, J., Jun, D., Forbush, K. T., Christensen, K. A., & Perko, V. L. (2022). Eating-disorder psychopathology in female athletes and non-athletes: A meta-analysis. The International journal of eating disorders, 55(7), 861–885. https://doi.org/10.1002/eat.23748.. Exzessive körperliche Aktivität und die mit dem Leistungssport verbundenen hohen physischen und psychischen Anforderungen können daher das Risiko für Anorexia nervosa verstärken. In diesem Kontext wird auch von der „Anorexia athletica“ gesprochen, wobei es sich hierbei um keine klassifizierte Essstörung im klinischen Sinne handelt33Vasiliu O. (2023). Current trends and perspectives in the exploration of anorexia athletica-clinical challenges and therapeutic considerations. Frontiers in nutrition, 10, 1214398. https://doi.org/10.3389/fnut.2023.1214398.
Anorexia nervosa ist eine komplexe psychiatrische Erkrankung, deren Ursachen auf das Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückzuführen sind. Diese umfassen biologische und genetische Aspekte sowie psychologische und soziokulturelle Einflüsse. Es ist wichtig, diese Risikofaktoren nicht isoliert zu betrachten, sondern ihre gegenseitigen Wechselwirkungen und das individuelle Zusammenspiel in jedem Einzelfall zu berücksichtigen. Ein umfassendes Verständnis dieser komplexen Dynamik ist entscheidend für die Entwicklung effektiver Präventions- und Behandlungsansätze für Anorexia nervosa.
Folgen der Magersucht: Welche Langzeitfolgen können eintreten?
Als chronische und schwerwiegende Essstörung kann Anorexia nervosa sowohl kurzfristige als auch langfristige Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit, die Psyche und das soziale Leben haben. Während des Krankheitsverlaufs können viele Komplikationen auftreten, da das abnorme Essverhalten, das zu einer drastischen Gewichtsabnahme führt, den gesamten Organismus beeinträchtigen kann.34Meczekalski, B., Podfigurna-Stopa, A., & Katulski, K. (2013). Long-term consequences of anorexia nervosa. Maturitas, 75(3), 215–220. https://doi.org/10.1016/j.maturitas.2013.04.014.
Körperliche Folgen
Im Gegensatz zu anderen psychiatrischen Erkrankungen sind Essstörungen mit einer hohen Inzidenz medizinischer Komplikationen verbunden. Die mit Magersucht verbundenen Funktionsstörungen sind tiefgreifend und können nahezu alle Systeme und Organe betreffen. Diese Störung führt nicht nur zu unmittelbaren gesundheitlichen Problemen, sondern kann auch langfristige und teils irreversible Schäden nach sich ziehen. Zu den unmittelbaren Folgen zählen:
- Schwindel
- Kopfschmerzen
- Benommenheit (Brain Fog)
- Kälteempfinden
- Übelkeit
- Schwäche
- Verschwommenes Sehen.
Diese Anzeichen sollten als Warnsignale einer ernsthaften Gesundheitsgefährdung betrachtet werden. Die Langzeitfolgen sind gravierend und umfassen verschiedene Körpersysteme wie das Herz-Kreislauf-System, Fortpflanzungssystem, Skelettsystem und Magen-Darm-System. Die Mangelernährung kann ein prädisponierender Faktor für Organfunktionsstörungen sein. Einige der Komplikationen können dauerhaft anhalten und klingen auch nach erfolgreicher Behandlung der Anorexia nervosa und Normalisierung des Körpergewichts nicht ab.
Herz-Kreislauf-Probleme
Anorexia nervosa führt bei 80 % der Betroffenen zu Herz-Kreislauf-Komplikationen35Smythe, J., Colebourn, C., Prisco, L., Petrinic, T., & Leeson, P. (2021). Cardiac abnormalities identified with echocardiography in anorexia nervosa: systematic review and meta-analysis. The British journal of psychiatry : the journal of mental science, 219(3), 477–486. https://doi.org/10.1192/bjp.2020.1. 36Springall, G. A. C., Caughey, M., Zannino, D., Kyprianou, K., Mynard, J. P., Rudolph, S., Cheong, J., Yeo, M., & Cheung, M. M. H. (2023). Long-term cardiovascular consequences of adolescent anorexia nervosa. Pediatric research, 94(4), 1457–1464. https://doi.org/10.1038/s41390-023-02521-5.. Zu den häufigsten Problemen zählen strukturelle und funktionelle Herzveränderungen wie ein verlängertes QT-Intervall, Sinusbradykardie, Veränderungen im Herzmuskel, niedriger Blutdruck und Herzrhythmusstörungen. Sinusbradykardie, die häufigste Herzrhythmusstörung bei diesen Patienten, kann lebensbedrohlich sein. Weitere Herzprobleme sind u. a. vorzeitige ventrikuläre Komplexe, abnormale Herzrhythmen und eine verminderte Herzleistung. Auch ein Rückgang der linken Herzkammergröße und des Blutvolumens sowie hormonelle Veränderungen können auftreten37Friars, D., Walsh, O., & McNicholas, F. (2023). Assessment and management of cardiovascular complications in eating disorders. Journal of eating disorders, 11(1), 13. https://doi.org/10.1186/s40337-022-00724-5.. Faktoren wie Wachstumshormonresistenz, Hyperkortisolämie und ein abnormales Lipidprofil können das kardiovaskuläre Risiko zusätzlich erhöhen38Misra, M., & Klibanski, A. (2016). Anorexia Nervosa and Its Associated Endocrinopathy in Young People. Hormone research in paediatrics, 85(3), 147–157. https://doi.org/10.1159/000443735. 39Winston A. P. (2012). The clinical biochemistry of anorexia nervosa. Annals of clinical biochemistry, 49(Pt 2), 132–143. https://doi.org/10.1258/acb.2011.011185.. Die Wiederernährung (Refeeding) nach einer Phase der Unterernährung kann zu weiteren Herzproblemen wie einem verlängerten QT-Intervall, beschleunigtem Herzschlag und Herzversagen führen40Burns, J., Shank, C., Ganigara, M., Saldanha, N., & Dhar, A. (2021). Cardiac complications of malnutrition in adolescent patients: A narrative review of contemporary literature. Annals of pediatric cardiology, 14(4), 501–506. https://doi.org/10.4103/apc.apc_258_20.. Eine sorgfältige klinische Betreuung kann solche Probleme jedoch verhindern.
Reproduktionsprobleme
Neuroendokrine Störungen bei Anorexia nervosa beeinträchtigen sowohl kurz- als auch langfristig die reproduktive Gesundheit41Amorim, T., Khiyami, A., Latif, T., & Fazeli, P. K. (2023). Neuroendocrine adaptations to starvation. Psychoneuroendocrinology, 157, 106365. https://doi.org/10.1016/j.psyneuen.2023.106365.. Diese Veränderungen beeinflussen den Menstruationszyklus und können zu Amenorrhoe führen. Studien zeigen, dass Frauen mit einer Magersucht in der Vorgeschichte keine reduzierte Fruchtbarkeit aufweisen42Chaer, R., Nakouzi, N., Itani, L., Tannir, H., Kreidieh, D., El Masri, D., & El Ghoch, M. (2020). Fertility and Reproduction after Recovery from Anorexia Nervosa: A Systematic Review and Meta-Analysis of Long-Term Follow-Up Studies. Diseases (Basel, Switzerland), 8(4), 46. https://doi.org/10.3390/diseases8040046.. Sie neigen jedoch dazu, später im Leben Kinder zu bekommen und insgesamt weniger Nachwuchs zu haben43Power, R. A., Kyaga, S., Uher, R., MacCabe, J. H., Långström, N., Landen, M., McGuffin, P., Lewis, C. M., Lichtenstein, P., & Svensson, A. C. (2013). Fecundity of patients with schizophrenia, autism, bipolar disorder, depression, anorexia nervosa, or substance abuse vs their unaffected siblings. JAMA psychiatry, 70(1), 22–30. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2013.268.. Es gibt auch Hinweise auf eine höhere Rate an Schwangerschaftsabbrüchen und ungewollten Schwangerschaften bei Frauen mit Magersucht44Bulik, C. M., Hoffman, E. R., Von Holle, A., Torgersen, L., Stoltenberg, C., & Reichborn-Kjennerud, T. (2010). Unplanned pregnancy in women with anorexia nervosa. Obstetrics and gynecology, 116(5), 1136–1140. https://doi.org/10.1097/AOG.0b013e3181f7efdc.. Während der Schwangerschaft können Frauen mit Anorexia nervosa mehr geburtshilfliche Komplikationen erleben, darunter Hyperemesis gravidarum (starke Übelkeit und Erbrechen), Anämie, unzureichende Gewichtszunahme und ein beeinträchtigtes intrauterines Wachstum des Fötus45Sebastiani, G., Andreu-Fernández, V., Herranz Barbero, A., Aldecoa-Bilbao, V., Miracle, X., Meler Barrabes, E., Balada Ibañez, A., Astals-Vizcaino, M., Ferrero-Martínez, S., Gómez-Roig, M. D., & García-Algar, O. (2020). Eating Disorders During Gestation: Implications for Mother's Health, Fetal Outcomes, and Epigenetic Changes. Frontiers in pediatrics, 8, 587. https://doi.org/10.3389/fped.2020.00587.. Zudem gibt es eine höhere Rate an Kaiserschnittgeburten, postnatalen Komplikationen und postpartaler Depressionen (Wochenbettdepression)46Pan, J. R., Li, T. Y., Tucker, D., & Chen, K. Y. (2022). Pregnancy outcomes in women with active anorexia nervosa: a systematic review. Journal of eating disorders, 10(1), 25. https://doi.org/10.1186/s40337-022-00551-8.. Die Rate an Frühgeburten ist bei magersüchtigen Frauen signifikant höher im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen47Mantel, Ä., Hirschberg, A. L., & Stephansson, O. (2020). Association of Maternal Eating Disorders With Pregnancy and Neonatal Outcomes. JAMA psychiatry, 77(3), 285–293. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2019.3664.. Zudem besteht ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Anorexie und einem niedrigerem Geburtsgewicht der Babys48Solmi, F., Sallis, H., Stahl, D., Treasure, J., & Micali, N. (2014). Low birth weight in the offspring of women with anorexia nervosa. Epidemiologic reviews, 36(1), 49–56. https://doi.org/10.1093/epirev/mxt004..
Knochenprobleme
Anorexia nervosa hat einen tiefgreifenden Einfluss auf den Knochenstoffwechsel. Besonders bei Jugendlichen, die sich in einer entscheidenden Phase für die Maximierung ihrer Knochenmineraldichte befinden, kann Magersucht zu einer niedrigeren als normalen Spitzenknochenmasse führen, was das Risiko für Osteoporose und Knochenbrüche im späteren Leben erhöht49Robinson, L., Aldridge, V., Clark, E. M., Misra, M., & Micali, N. (2016). A systematic review and meta-analysis of the association between eating disorders and bone density. Osteoporosis international : a journal established as result of cooperation between the European Foundation for Osteoporosis and the National Osteoporosis Foundation of the USA, 27(6), 1953–1966. https://doi.org/10.1007/s00198-015-3468-4.. Bei Magersüchtigen ist der Knochenumsatz gestört, was oft zu einer dauerhaften Verminderung der Knochenmasse führt, wobei viele Betroffene an Osteoporose und Osteopenie leiden50Misra, M., & Klibanski, A. (2011). Bone health in anorexia nervosa. Current opinion in endocrinology, diabetes, and obesity, 18(6), 376–382. https://doi.org/10.1097/MED.0b013e32834b4bdc.. Das Risiko für Knochenbrüche bleibt auch langfristig erhöht51Steinman, J., & Shibli-Rahhal, A. (2019). Anorexia Nervosa and Osteoporosis: Pathophysiology and Treatment. Journal of bone metabolism, 26(3), 133–143. https://doi.org/10.11005/jbm.2019.26.3.133.. Zu den Hauptfaktoren, die den Knochenstoffwechsel bei Anorexia nervosa beeinträchtigen, gehören Ernährungsdefizite, eine veränderte Körperzusammensetzung und hormonelle Störungen. Mangelernährung und ein niedriger BMI spielen eine wichtige Rolle für die Knochendichte52Zuckerman-Levin, N., Hochberg, Z., & Latzer, Y. (2014). Bone health in eating disorders. Obesity reviews : an official journal of the International Association for the Study of Obesity, 15(3), 215–223. https://doi.org/10.1111/obr.12117.. Hormonelle Veränderungen, einschließlich eines erhöhten Cortisolspiegels und Östrogenmangel, beeinträchtigen die Knochenbildung und fördern den Knochenabbau53Miller K. K. (2013). Endocrine effects of anorexia nervosa. Endocrinology and metabolism clinics of North America, 42(3), 515–528. https://doi.org/10.1016/j.ecl.2013.05.007.. Die Normalisierung der Fortpflanzungsfunktion ist ein starker Prädiktor für die Erholung des Skelettsystems.
Magen-Darm-Probleme
Bei Menschen mit Anorexia nervosa treten häufig gastrointestinale Probleme auf 54Zipfel, S., Sammet, I., Rapps, N., Herzog, W., Herpertz, S., & Martens, U. (2006). Gastrointestinal disturbances in eating disorders: clinical and neurobiological aspects. Autonomic neuroscience : basic & clinical, 129(1-2), 99–106. https://doi.org/10.1016/j.autneu.2006.07.023.. Diese umfassen ein postprandiales Völlegefühl, Verstopfung und Gastroparese (verzögerte Magenentleerung), die sich in Blähungen, Bauchschmerzen und einem frühen Sättigungsgefühl äußert55Santonicola, A., Gagliardi, M., Guarino, M. P. L., Siniscalchi, M., Ciacci, C., & Iovino, P. (2019). Eating Disorders and Gastrointestinal Diseases. Nutrients, 11(12), 3038. https://doi.org/10.3390/nu11123038.. Darüber hinaus können schwerwiegende Stoffwechsel- und Elektrolytstörungen wie Hypokaliämie, Hypomagnesämie und Hypokalzämie beobachtet werden, die besonders typisch für die Binge-Purge-Form der Erkrankung sind. Häufiges Erbrechen kann zudem erhöhte Serum-Amylase-Konzentrationen, Geschwüre, Blutungen, Anämie und gastro-ösophageale Läsionen (Mallory-Weiss-Syndrom) verursachen. Zudem sind Patienten einem erhöhten Risiko für Magenperforationen und Nekrosen der Magenwand ausgesetzt56Lin, J. A., Woods, E. R., & Bern, E. M. (2021). Common and Emergent Oral and Gastrointestinal Manifestations of Eating Disorders. Gastroenterology & hepatology, 17(4), 157–167.. Der Missbrauch von Abführmitteln kann die Bauchspeicheldrüse schädigen, Durchfall und Melanosis coli nach sich ziehen57Forney, K. J., Buchman-Schmitt, J. M., Keel, P. K., & Frank, G. K. (2016). The medical complications associated with purging. The International journal of eating disorders, 49(3), 249–259. https://doi.org/10.1002/eat.22504.. Infolge eines gestörten Fettstoffwechsels können erhöhte Lebertransaminasen und Hypercholesterinämie auftreten, was das Risiko für eine Fettleber erhöht58Mehler, P. S., & Brown, C. (2015). Anorexia nervosa – medical complications. Journal of eating disorders, 3, 11. https://doi.org/10.1186/s40337-015-0040-8.. Eine Dysphagie (Schluckstörung) aufgrund der Schwächung der Rachenmuskeln kann zu Aspiration führen und das Einsetzen einer Nahrungssonde notwendig machen59Holmes, S. R., Gudridge, T. A., Gaudiani, J. L., & Mehler, P. S. (2012). Dysphagia in severe anorexia nervosa and potential therapeutic intervention: a case series. The Annals of otology, rhinology, and laryngology, 121(7), 449–456. https://doi.org/10.1177/000348941212100705.. Das Superior-Mesenteric-Artery-Syndrom, eine Kompression des Duodenums (Zwölffingerdarms), sowie eine akute Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse) sind weitere mögliche Komplikationen60Gwee, K., Teh, A., & Huang, C. (2010). Acute superior mesenteric artery syndrome and pancreatitis in anorexia nervosa. Australasian psychiatry : bulletin of Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists, 18(6), 523–526. https://doi.org/10.3109/10398562.2010.498885..
Metabolische Anpassungen
Der BMI ist ein wichtiger Indikator für den Ernährungszustand bei Anorexia nervosa. Er kann frühe Anzeichen schwerwiegender medizinischer Probleme liefern, da er eng mit der Körpertemperatur und dem Blutdruck zusammenhängt. Bei einem extrem niedrigen BMI, wie 15,6 kg/m² oder weniger, findet im Körper eine komplexe Anpassung statt, um das Überleben zu sichern. Diese umfasst eine Verringerung des Energieverbrauchs, Veränderungen in Hormonen wie Schilddrüsenhormonen und Insulin, sowie die Umwandlung von Fett in Protein, um den Energiebedarf zu decken. Sind alle Fettreserven aufgebraucht, werden Muskelproteine, auch im Herzmuskel, abgebaut. Diese Anpassungen können schwerwiegende Folgen haben, einschließlich chronischer Mangelernährung und die Entwicklung kardialer und anderer schwerer Komplikationen. Der genaue BMI, ab dem das Überleben unmöglich wird, ist nicht eindeutig definiert. Es wurden Fälle von Patienten mit einem extrem niedrigen BMI, wie 8,5 kg/m² oder niedriger, dokumentiert, die ein hypoglykämisches Koma erlitten und bleibende neurologische Schäden davontrugen. Der niedrigste je gemessene BMI-Wert betrug 6,7 kg/m² und war mit einer Herzinsuffizienz verbunden, was das Risiko von Tod, Nierenversagen und Lungenentzündung erhöhte.61Suszko, M., Sobocki, J., & Imieliński, C. (2022). Mortality in extremely low BMI anorexia nervosa patients – implications of gastrointestinal and endocrine system dysfunction. Śmiertelność w grupie pacjentów z jadłowstrętem psychicznym z ekstremalnie niskim BMI – implikacje dysfunkcji układu pokarmowego i endokrynnego. Psychiatria polska, 56(1), 89–100. https://doi.org/10.12740/PP/126233.
Psychische und emotionale Folgen
Magersucht hat tiefgreifende psychische und emotionale Konsequenzen. Die ständige Beschäftigung mit dem Gewicht, der Figur und der Ernährung kann zu sozialer Isolation und Schwierigkeiten führen, Alltagsaufgaben zu bewältigen. Oft entwickeln Patienten eine verzerrte Selbstwahrnehmung, ein extrem kritisches Körperbild und ein gestörtes Selbstwertgefühl, was zu weiterem Rückzug und emotionaler Belastung führt. Anorexia nervosa kann zu einer mangelnden emotionalen Selbstwahrnehmung und Identitätsfindung führen, bei der Betroffene Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Bedürfnisse und Emotionen zu verstehen und wertzuschätzen. Dies verstärkt die Abhängigkeit von externer Bestätigung und fördert ein falsches Selbstgefühl62Oldershaw, A., Startup, H., & Lavender, T. (2019). Anorexia Nervosa and a Lost Emotional Self: A Psychological Formulation of the Development, Maintenance, and Treatment of Anorexia Nervosa. Frontiers in psychology, 10, 219. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2019.00219.. Psychiatrische Komorbiditäten sind bei Anorexia nervosa weit verbreitet und tragen zur Erhöhung der Krankheitslast bei. Viele Betroffene erleben Stimmungsstörungen, depressive Störungen, Angststörungen und Zwangsstörungen, aber auch einige Persönlichkeitsstörungen, Drogenmissbrauch und Borderline-Merkmale63Hambleton, A., Pepin, G., Le, A., Maloney, D., National Eating Disorder Research Consortium, Touyz, S., & Maguire, S. (2022). Psychiatric and medical comorbidities of eating disorders: findings from a rapid review of the literature. Journal of eating disorders, 10(1), 132. https://doi.org/10.1186/s40337-022-00654-2.. Auch das Risiko für nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten und Suizidgedanken ist erhöht, weshalb im Rahmen der Therapie eine engmaschige psychologische Betreuung erforderlich ist64Kiekens, G., & Claes, L. (2020). Non-Suicidal Self-Injury and Eating Disordered Behaviors: An Update on What We Do and Do Not Know. Current psychiatry reports, 22(12), 68. https://doi.org/10.1007/s11920-020-01191-y..
Folgen für das soziale Leben und Beziehungen
Die sozialen Auswirkungen von Magersucht sind nicht zu unterschätzen. Die Erkrankung kann die Teilhabe und Produktivität an Bildung und Arbeit sowie die Lebensqualität der Betroffenen und ihres sozialen sowie familiären Umfelds erheblich beeinträchtigen65van Hoeken, D., & Hoek, H. W. (2020). Review of the burden of eating disorders: mortality, disability, costs, quality of life, and family burden. Current opinion in psychiatry, 33(6), 521–527. https://doi.org/10.1097/YCO.0000000000000641.. Oft führt die Störung zu Konflikten in der Familie, Partnerschaft und im Freundeskreis, da die Betroffenen häufig Mahlzeiten meiden oder sich aus sozialen Aktivitäten zurückziehen66Erriu, M., Cimino, S., & Cerniglia, L. (2020). The Role of Family Relationships in Eating Disorders in Adolescents: A Narrative Review. Behavioral sciences (Basel, Switzerland), 10(4), 71. https://doi.org/10.3390/bs10040071.. Dies kann Missverständnisse und Spannungen in Beziehungen hervorrufen. Die Tendenz zur Konfliktvermeidung, Schwierigkeiten im Umgang mit negativen Emotionen wie Ärger und Wut sowie eine mangelnde Spontaneität können die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen weiter beeinträchtigen. Beziehungen werden auch dadurch belastet, dass nahestehende Personen oft Unsicherheit und Hilflosigkeit im Umgang mit der Situation erleben. In schweren Fällen kann dies zu dauerhaften Entfremdungen und Brüchen in Beziehungen führen. Eine frühzeitige Einbindung von Familie, Partner und Freunden in die Therapie kann helfen, das Verständnis für die Krankheit zu verbessern und die soziale Unterstützung für Betroffene zu stärken.
Lebenserwartung und Mortalität
Es gibt Hinweise darauf, dass Personen mit Anorexia nervosa eine deutlich reduzierte Lebenserwartung haben. Statistisch gesehen wird beispielsweise eine Frau, die seit ihrem 15. Lebensjahr an Magersucht leidet, wahrscheinlich 25 Jahre kürzer leben als für die Normalbevölkerung vorhergesagt67Harbottle, E. J., Birmingham, C. L., & Sayani, F. (2008). Anorexia nervosa: a survival analysis. Eating and weight disorders : EWD, 13(2), e32–e34.. Gleichzeitig hat Magersucht die höchste Sterblichkeitsrate aller psychiatrischen Erkrankungen, was
höchstwahrscheinlich auf Komplikationen zurückzuführen ist. Die veröffentlichten Sterblichkeitsraten schwanken stark, teilweise aufgrund unterschiedlicher Beobachtungszeiträume und Todesursachen68Auger, N., Potter, B. J., Ukah, U. V., Low, N., Israël, M., Steiger, H., Healy-Profitós, J., & Paradis, G. (2021). Anorexia nervosa and the long-term risk of mortality in women. World psychiatry : official journal of the World Psychiatric Association (WPA), 20(3), 448–449. https://doi.org/10.1002/wps.20904. 69Smink, F. R., van Hoeken, D., & Hoek, H. W. (2012). Epidemiology of eating disorders: incidence, prevalence and mortality rates. Current psychiatry reports, 14(4), 406–414. https://doi.org/10.1007/s11920-012-0282-y. 70Signorini, A., De Filippo, E., Panico, S., De Caprio, C., Pasanisi, F., & Contaldo, F. (2007). Long-term mortality in anorexia nervosa: a report after an 8-year follow-up and a review of the most recent literature. European journal of clinical nutrition, 61(1), 119–122. https://doi.org/10.1038/sj.ejcn.1602491.. Magersüchtige Patienten können aus „natürlichen“ Gründen wie Unterernährung, schweren Herzproblemen und Organversagen oder aus „unnatürlichen“ Gründen wie Selbstmord sterben. Anorexia nervosa zeigt dabei eine hohe Prävalenz von Suizidversuchen71Amiri, S., & Khan, M. A. (2023). Prevalence of non-suicidal self-injury, suicidal ideation, suicide attempts, suicide mortality in eating disorders: a systematic review and meta-analysis. Eating disorders, 31(5), 487–525. https://doi.org/10.1080/10640266.2023.2196492.. Die meisten Todesfälle sind jedoch eine direkte Folge des anhaltenden Hungerzustands und von Herzkomplikationen. In einer Meta-Analyse betrug die standardisierte Mortalitätsrate für Anorexia nervosa 5,9 – also ein fast 6-fach erhöhtes Sterberisiko. Eine von fünf Personen, die an Magersucht starb, hatte Selbstmord begangen72Arcelus, J., Mitchell, A. J., Wales, J., & Nielsen, S. (2011). Mortality rates in patients with anorexia nervosa and other eating disorders. A meta-analysis of 36 studies. Archives of general psychiatry, 68(7), 724–731. https://doi.org/10.1001/archgenpsychiatry.2011.74.. Eine stationäre Behandlung, eine längere Dauer der unbehandelten Erkrankung und ein niedrigerer BMI bei der Vorstellung sind mit einem erhöhten Risiko verbunden.
Magersucht führt zu ernsten kurz- und langfristigen gesundheitlichen Konsequenzen, darunter schwerwiegenden Folgen auf das Fortpflanzungs-, Herz-Kreislauf- und Skelettsystem. Auch das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität sind bei Anorexia nervosa stark vermindert. Unbehandelt erhöht die Störung deutlich das Sterberisiko. Daher sind eine frühzeitige Diagnose und umfassende Therapie entscheidend – nicht nur für die Genesung, sondern auch zur Vorbeugung und Linderung von Spätfolgen.
Therapie der Magersucht: Woraus besteht die Behandlung?
Magersucht ist therapierbar. Die Therapie fokussiert sich zunächst auf die Behandlung akuter Symptome und darauf, eine Chronifizierung der Erkrankung zu verhindern. Ein besonderer Fokus liegt auf der Verbesserung des Essverhaltens und der Gewichtszunahme. Da auch nach der Behandlung oft „Restsymptome“ bestehen, die sich in Belastungssituationen verstärken können, ist eine umfassende Nachsorge essenziell. Detaillierte Empfehlungen für die Therapie der Anorexia nervosa sind in der S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“ festgehalten.
Behandlungsziele
Bei der Behandlung von Patienten mit Anorexia nervosa ist eine individuelle Behandlung für jeden Patienten mit einem multidisziplinären Ansatz erforderlich. Die Therapie hat das Ziel, die Betroffenen umfassend zu unterstützen und zu heilen. Die wichtigsten Ziele und Aspekte der Behandlung bei Magersucht sind:
- Somatische Rehabilitation: Wiederherstellung und Aufrechterhaltung eines alters- und größenangemessenen Körpergewichts sowie Behandlung körperlicher Folgen des Essverhaltens und Untergewichts.
- Normalisierung des Essverhaltens: Aufbau einer regelmäßigen Mahlzeitenstruktur und Förderung einer ausgewogenen Ernährung.
- Individuelle psychotherapeutische Behandlung: Bearbeitung der dem Störungsbild zugrunde liegenden Schwierigkeiten auf emotionaler, kognitiver und interaktioneller Ebene, inkl. der Veränderung dysfunktionaler Gedanken, die Verbesserung der Emotionsregulation und sozialer Kompetenzen, den Aufbau von Selbstwert und die Entwicklung einer Nähe-Distanz-Regulation.
- Einbeziehung der Familie: Bewältigung intrafamiliärer Konflikte und Unterstützung durch Einbindung der Angehörigen in den Therapieprozess.
- Förderung der sozialen Integration: Dies beinhaltet oft das Nachholen verpasster Entwicklungsschritte und die Verbesserung der sozialen Fähigkeiten.
- Rückfallprophylaxe: Vorbereitung auf mögliche Rückfälle nach der Therapie und Anwendung erlernter Bewältigungsstrategien.
Die Behandlung sollte störungsorientiert sein, wobei sowohl die körperlichen als auch die psychischen Aspekte der Erkrankung berücksichtigt werden. Frühzeitige Behandlungsangebote können helfen, eine Chronifizierung zu vermeiden. Dabei ist es wichtig, eine kontinuierliche Behandlung mit regelmäßiger Absprache und Kommunikation zwischen den beteiligten medizinischen und therapeutischen Fachkräften zu gewährleisten. Bei jüngeren Patienten ist es zudem unerlässlich, dass Sorgeberechtigten oder nahe Angehörigen ausführlich informiert und in den Behandlungsprozess einbezogen werden.
Behandlungssettings
Die Behandlung von Anorexia nervosa kann ambulant, tagesklinisch (teilstationär) oder vollstationär erfolgen. Wahl des Behandlungssettings hängt von der Schwere der Erkrankung, vorhandenen Begleiterkrankungen und den lokalen Möglichkeiten ab. Auch die individuellen Bedürfnisse, Vorstellungen und Ängste der Patienten fließen in die Planung ein. In allen Settings ist die Expertise in der Behandlung von Essstörungen und das Vorhalten störungsspezifischer Therapieelemente elementar.
Ambulante Behandlung
Die ambulante Behandlung ist oft die bevorzugte Wahl bei weniger schweren Fällen von Anorexia nervosa. Sie findet im häuslichen Umfeld mit regelmäßigen Behandlungsterminen statt, wobei der Schwerpunkt auf einer evidenzbasierten Psychotherapie liegt. Zusätzlich übernimmt der Hausarzt die Überwachung des körperlichen Zustands und die Behandlung von Begleitsymptomen. Es ist wichtig, zu Therapiebeginn klare Absprachen zu treffen, insbesondere in Bezug auf Gewichtskontrollen und den Umgang mit einem eventuellen Gewichtsverlust. Das Hauptziel ist die Normalisierung des Essverhaltens und des Gewichts sowie die Bearbeitung psychischer Probleme, begleitet von einem kontinuierlichen Gewichtsmonitoring. Bei mehreren Behandlern ist eine regelmäßige Abstimmung untereinander entscheidend. Sollte keine Verbesserung eintreten oder sich der Zustand verschlechtern, können intensivere oder kombinierte Therapieformen erwogen werden. Nach Abschluss der Therapie sind regelmäßige Nachsorgetermine zur Rückfallprävention und Sicherung des Therapieerfolgs wichtig.
Tagesklinische Behandlung
Tageskliniken sind eine effektive Behandlungsoption für Anorexia nervosa, wenn ambulante Therapien nicht ausreichen oder als Übergang nach einem stationären Aufenthalt. Sie bieten den Vorteil, dass Patienten tagsüber eine intensive Therapie in der Klinik erhalten und abends in ihr häusliches Umfeld zurückkehren. Tagesklinken richten sich u. a. an Patienten mit chronischen Verläufen, mäßigem Untergewicht, guter Motivation oder jene, die den Übergang von stationärer zu ambulanter Betreuung vorbereiten. Der Schwerpunkt liegt auf der Einbindung in das soziale Umfeld und der Intensivierung der ambulanten Therapie, einschließlich des Essverhaltens und der psychischen Betreuung. Die Behandlung fördert die Eigenverantwortung und hilft dabei, Therapieerfolge in den Alltag zu integrieren. Obwohl die Gewichtszunahme geringer sein kann als in einem stationären Setting, ist der Ansatz besonders bei hochmotivierten Patienten mit einer kürzeren Krankheitsdauer und weniger schweren Fällen wirksam. Allerdings kann eine tagesklinische Behandlung auch überfordern, wenn Patienten außerhalb der Klinik noch Probleme mit der selbstständigen Nahrungsaufnahme haben.
Stationäre Behandlung
Die stationäre Therapie ist die vorrangige Wahl für Patienten mit einem rapiden Gewichtsverlust, gravierendem Untergewicht, fehlendem Erfolg ambulanter oder tagesklinischer Behandlung, psychischen Komorbiditäten und körperlicher Gefährdung. Diese intensive Therapieform wird von einem multiprofessionellen Team durchgeführt und konzentriert sich auf die körperliche Stabilisierung sowie psychologische Unterstützung. Wichtig ist, dass Patienten genügend Zeit für ihre Genesung erhalten und die Behandlung in spezialisierten Einrichtungen erfolgt, die ein multimodales Therapieprogramm anbieten können. Die stationäre Behandlung wird dabei nicht als letzte Maßnahme angesehen, sondern als integraler Bestandteil des Therapieplans, der bei Bedarf wiederholt werden kann. Sie bietet einen geschützten Rahmen, in dem Patienten intensiv und engmaschig betreut werden und sich voll auf ihre Genesung konzentrieren können. Das Ziel ist es, ein angemessenes Gewicht zu erreichen und psychische Stabilität zu fördern, um langfristige Erfolge zu sichern und Rückfällen vorzubeugen. Nach stationären Phasen sollten der Transfer in den Alltag vorbereitet und ambulante Weiterbehandlungen geplant werden.
Behandlungsbausteine
Die Behandlung von Magersucht umfasst verschiedene Therapiebausteine, die auf die körperliche und seelische Genesung abzielen. Das primäre Ziel ist es, das Körpergewicht der Patienten zu steigern, da dies entscheidend ist, um die physischen und psychischen Folgen des langanhaltenden Hungerns zu reduzieren.
Psychotherapie
Die Psychotherapie („Behandlung der Seele“) ist die wichtigste Behandlungsmethode bei Anorexia nervosa. Sie konzentriert sich auf Aspekte wie Gewicht und Körperbild, Essverhalten, ungünstige Vorstellungen und Fehlannahmen, Körpererleben und Selbstwert, Perfektionismus und Impulsivität sowie den Umgang mit Gefühlen, Beziehungen und familiäre Konflikte. Zu Beginn der Psychotherapie wird vor allem die Gewichtszunahme unterstützt, gefolgt von einer Bearbeitung der zugrunde liegenden Probleme und Denkmuster, die zur Entstehung der Magersucht beigetragen haben. Es können verschiedene Therapieverfahren zum Einsatz kommen, darunter die (kognitive) Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, interpersonelle Psychotherapie und familienbasierte Therapie. In der Verhaltenstherapie wird z. B. an der Veränderung schädlicher Denkmuster und der Entwicklung neuer Verhaltensweisen gearbeitet. Die tiefenpsychologisch fundierte Therapie adressiert u. a. unbewusste Konflikte und Lebenserfahrungen. Körperorientierte Methoden, Ernährungstherapie und ggf. eine medikamentöse Behandlung können den Therapieprozess zusätzlich unterstützen. Neben Einzel- und Gruppensitzungen kann es sinnvoll sein, wichtige Bezugspersonen in den Therapieprozess einzubeziehen, besonders bei Kindern und Jugendlichen.
Ernährungstherapie
Eine begleitende Ernährungstherapie ist ein sinnvoller Baustein, um die anhaltende Unterernährung bei Magersucht zu behandeln. Allerdings reicht eine Ernährungsberatung allein nicht aus und sollte daher nur als komplementäres Therapieelement eingesetzt werden. Ziel der Ernährungstherapie ist es, dass die Betroffenen wieder ausreichende und gesunde Nahrung zu sich nehmen können (Normalisierung des Essverhaltens). Dazu gehört, die neu erlernten Verhaltensweisen individuell an den Alltag anzupassen und zu festigen. Patienten lernen, ihre Mahlzeiten adäquat auszuwählen und zuzubereiten, um regelmäßig, bedarfsdeckend und ausgewogen zu essen. Hierfür werden Vereinbarungen getroffen, die das Gewicht, die Arbeit mit Esstagebüchern und Gewichtsveränderungen beinhalten. Bei stationären und teilstationären Behandlungsprogrammen findet zusätzlich begleitetes Essen und Kochen statt. In einigen Fällen kann eine vorübergehende Ernährung über eine Magensonde erforderlich sein, insbesondere wenn die Patienten nicht in der Lage sind zu essen.
Pharmakotherapie
In Bezug auf medikamentöse Behandlungen gibt es bisher keine wissenschaftlichen Beweise für die Wirksamkeit von Medikamenten wie Antidepressiva oder Neuroleptika zur Gewichtszunahme bei Magersucht. Antidepressiva sollten nicht zur Gewichtszunahme eingesetzt werden, es sei denn, sie werden zur Behandlung begleitender Depressionen benötigt. Der Einsatz niedrig dosierter Neuroleptika kann in Einzelfällen erwogen werden, wenn das Denken stark von Gewichtsängsten und Essproblemen beeinflusst ist oder eine nicht beherrschende Hyperaktivität vorliegt.
Zwangstherapie
In extrem seltenen Fällen kann eine Zwangsbehandlung, beispielsweise eine Einweisung in eine Klinik, erforderlich sein, wenn lebensbedrohliche Zustände vorliegen und die Patienten keine Krankheitseinsicht zeigen. Für eine Zwangsbehandlung in Deutschland müssen streng definierte gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sein, einschließlich einer gerichtlich angeordneten Betreuung für Erwachsene oder einer Genehmigung durch das Familiengericht für Minderjährige. Dies sollte jedoch nur als letzte Option in Betracht gezogen werden, nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.
Refeeding-Syndrom
Das Refeeding-Syndrom ist eine schwerwiegende Komplikation in der Anfangsphase der Behandlung von Anorexia nervosa. Es tritt auf, wenn stark unterernährte Patienten zu schnell zu viel Nahrung erhalten, was hormonelle und metabolische Veränderungen verursacht. Zu den Symptomen gehören Elektrolytungleichgewichte, insbesondere Hypophosphatämie, aber auch Hypokaliämie, Hyponatriämie, Hypomagnesiämie, Flüssigkeitsretention, Vitaminmangel und metabolische Azidose. Dies gilt sowohl für die orale als auch für die parenterale Ernährung73Skowrońska, A., Sójta, K., & Strzelecki, D. (2019). Refeeding syndrome as treatment complication of anorexia nervosa. Zespół realimentacyjny jako powikłanie leczenia jadłowstrętu psychicznego. Psychiatria polska, 53(5), 1113–1123. https://doi.org/10.12740/PP/OnlineFirst/90275.. Die klinischen Folgen reichen von Organfunktionsstörungen über Koma bis hin zum Tod. Das Risiko für das Refeeding-Syndrom erfordert ein sorgfältiges medizinisches Monitoring und eine angemessene Steuerung der Energiezufuhr. Eine vorsichtige Kalorienzufuhr und eine regelmäßige Überwachung der Elektrolyte sind entscheidend, um das Refeeding-Syndrom zu vermeiden, besonders in den ersten Behandlungswochen. Bei milder bis moderater Anorexia nervosa ist ggf. keine niedrigkalorische Anfangsdiät erforderlich, solange eine medizinische Überwachung gewährleistet ist. Die initiale Kalorienzufuhr sollte darauf ausgerichtet sein, was als zumutbar erachtet wird und eine ausreichende Gewichtszunahme ermöglicht.
Prognose
Die Prognose für Anorexia nervosa ist oft herausfordernd und variiert stark. Im Allgemeinen sind restriktive Essstörungen wie Magersucht mit einer schlechteren Prognose verbunden. Symptome von Binge-Eating und Purging innerhalb des Störungsspektrums sind ebenfalls mit einer ungünstigeren Prognose assoziiert. Die Erkrankung nimmt häufig einen chronischen Verlauf und kann über mehrere Jahre andauern74Piñar-Gutiérrez, A., Dios-Fuentes, E., Remón-Ruiz, P., Del Can-Sánchez, D., Vázquez-Morejón, A., López-Narbona, M., Dastis-Rodríguez de Guzmán, J., Venegas-Moreno, E., & Soto-Moreno, A. (2021). Description of characteristics and outcomes of a cohort of patients with severe and enduring eating disorders (SE-ED). Journal of eating disorders, 9(1), 135. https://doi.org/10.1186/s40337-021-00492-8.. Auch der Heilungsprozess kann einen Zeitraum von vielen Monaten bis mehreren Jahren umfassen. Langfristig erreichen 18 bis 63 % der Betroffenen eine Genesung, wobei die durchschnittliche Krankheitsdauer zwischen 6,5 und 14 Jahren liegt75Miskovic-Wheatley, J., Bryant, E., Ong, S. H., Vatter, S., Le, A., National Eating Disorder Research Consortium, Touyz, S., & Maguire, S. (2023). Eating disorder outcomes: findings from a rapid review of over a decade of research. Journal of eating disorders, 11(1), 85. https://doi.org/10.1186/s40337-023-00801-3. 76Eddy, K. T., Tabri, N., Thomas, J. J., Murray, H. B., Keshaviah, A., Hastings, E., Edkins, K., Krishna, M., Herzog, D. B., Keel, P. K., & Franko, D. L. (2017). Recovery From Anorexia Nervosa and Bulimia Nervosa at 22-Year Follow-Up. The Journal of clinical psychiatry, 78(2), 184–189. https://doi.org/10.4088/JCP.15m10393.. Die Dauer einer unbehandelten Magersucht bei Personen, die Hilfe suchen, beträgt zum Zeitpunkt der Erstvorstellung durchschnittlich 2,5 Jahre77Austin, A., Flynn, M., Richards, K., Hodsoll, J., Duarte, T. A., Robinson, P., Kelly, J., & Schmidt, U. (2021). Duration of untreated eating disorder and relationship to outcomes: A systematic review of the literature. European eating disorders review : the journal of the Eating Disorders Association, 29(3), 329–345. https://doi.org/10.1002/erv.2745..
Faktoren, die die Prognose beeinflussen
- Positiv: Jüngeres Alter bei Beginn der Erkrankung, kürzere Dauer der Erkrankung bei der ersten Vorstellung, höhere anfängliche Motivation zur Genesung und eine frühe positive Reaktion auf die Behandlung verbessern die Langzeitprognose.
- Negativ: Ein niedrigerer BMI bei der ersten Vorstellung, das Vorhandensein einer Binge/Purge-Symptomatik und komorbide psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen sind mit einer schlechteren Prognose verbunden.
Häufigkeit von Rückfällen
Rückfälle werden als das Wiederauftreten von Symptomen nach einer Phase der Besserung definiert und sind bei Anorexia nervosa häufig. Sie treten besonders bei Patienten mit längerer Krankheitsdauer, niedrigerem Gewicht am Ende der Behandlung oder komorbiden psychiatrischen Störungen auf. Die Rückfallraten variieren aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Forschungsmethoden stark. Studien zeigen, dass 9 bis 52 % der Patienten nach der Behandlung einen Rückfall erleben, wobei das höchste Rückfallrisiko im ersten Jahr nach der Entlassung besteht78Khalsa, S. S., Portnoff, L. C., McCurdy-McKinnon, D., & Feusner, J. D. (2017). What happens after treatment? A systematic review of relapse, remission, and recovery in anorexia nervosa. Journal of eating disorders, 5, 20. https://doi.org/10.1186/s40337-017-0145-3. 79Berends, T., Boonstra, N., & van Elburg, A. (2018). Relapse in anorexia nervosa: a systematic review and meta-analysis. Current opinion in psychiatry, 31(6), 445–455. https://doi.org/10.1097/YCO.0000000000000453. 80de Rijk, E. S. J., Almirabi, D., Robinson, L., Schmidt, U., van Furth, E. F., & Slof-Op ‚t Landt, M. C. T. (2024). An overview and investigation of relapse predictors in anorexia nervosa: A systematic review and meta-analysis. The International journal of eating disorders, 57(1), 3–26. https://doi.org/10.1002/eat.24059. 81Sala, M., Keshishian, A., Song, S., Moskowitz, R., Bulik, C. M., Roos, C. R., & Levinson, C. A. (2023). Predictors of relapse in eating disorders: A meta-analysis. Journal of psychiatric research, 158, 281–299. https://doi.org/10.1016/j.jpsychires.2023.01.002.. Patienten, die nur eine teilweise Remission erreichen, neigen oft dazu, andere Formen von Essstörungen (z. B. Bulimia nervosa) zu entwickeln82Moore CA, Bokor BR. Anorexia Nervosa. [Updated 2023 Aug 28]. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2023 Jan-. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK459148/. 83Solmi, M., Monaco, F., Højlund, M., Monteleone, A. M., Trott, M., Firth, J., Carfagno, M., Eaton, M., De Toffol, M., Vergine, M., Meneguzzo, P., Collantoni, E., Gallicchio, D., Stubbs, B., Girardi, A., Busetto, P., Favaro, A., Carvalho, A. F., Steinhausen, H. C., & Correll, C. U. (2024). Outcomes in people with eating disorders: a transdiagnostic and disorder-specific systematic review, meta-analysis and multivariable meta-regression analysis. World psychiatry : official journal of the World Psychiatric Association (WPA), 23(1), 124–138. https://doi.org/10.1002/wps.21182.. Auch wenn am Ende der Behandlung eine vollständige Remission erreicht ist, bleibt das Risiko eines Rückfalls weiterhin bestehen, wobei Magersucht eine der höchsten Rückfallraten aufweist84Berends, T., van Meijel, B., Nugteren, W., Deen, M., Danner, U. N., Hoek, H. W., & van Elburg, A. A. (2016). Rate, timing and predictors of relapse in patients with anorexia nervosa following a relapse prevention program: a cohort study. BMC psychiatry, 16(1), 316. https://doi.org/10.1186/s12888-016-1019-y.. Dies unterstreicht die Bedeutung einer sorgfältigen Überwachung und eines gut geplanten Übergangs von der stationären zur ambulanten Behandlung, um die Wahrscheinlichkeit von Rückfällen zu reduzieren.
Anorexia nervosa erfordert eine frühzeitige, individuell angepasste Behandlung durch ein multidisziplinäres Team, um eine Chronifizierung zu verhindern. Wichtig ist ein flexibler Behandlungsansatz, der auf die spezifischen Bedürfnisse und die schwankende Motivation der Patienten eingeht, wobei kleine, erreichbare Ziele und die kontinuierliche Anpassung der Energiezufuhr für die Gewichtszunahme entscheidend sind. Eine gute Nachsorge, die Verhaltensänderungen und psychologische Unterstützung kombiniert, ist unerlässlich, um die Patienten in ihrer Selbstfürsorge zu stärken und die Akzeptanz ihres Körpergewichts zu fördern.
Fazit zur Anorexia nervosa
Anorexia nervosa, auch als Magersucht bekannt, ist eine ernsthafte psychische Erkrankung, die zu einem deutlich verringerten Körpergewicht führt. Dies geschieht durch verschiedene Methoden wie Hungern, teilweise auch Erbrechen, übermäßigen Sport oder die Einnahme von Medikamenten. Betroffene leiden unter einer verzerrten Körperwahrnehmung, fühlen sich trotz Untergewicht zu dick und haben Angst vor einer Gewichtszunahme. Dies äußert sich in einer übermäßigen Beschäftigung mit dem Gewicht und der Figur, wobei der Selbstwert stark von der Bewertung des eigenen Körpergewichts und Aussehens bestimmt wird. Viele Betroffene leugnen die Risiken ihres Untergewichts und zeigen meist wenig bis keine Krankheitseinsicht.
Folgen nicht unterschätzen
Die Folgen von Anorexia nervosa sind tiefgreifend und sollten in keinem Fall unterschätzt werden. Diese Essstörung verursacht nicht nur extreme körperliche Auswirkungen wie Unterernährung, Muskelschwund, brüchige Knochen und ernsthafte Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern beeinträchtigt auch signifikant die psychische Gesundheit. Betroffene erleiden häufig Depressionen, Angststörungen und soziale Rückzugstendenzen. Zudem können langanhaltende Essstörungen zu chronischen Gesundheitsproblemen führen, die das Risiko für lebensbedrohliche Zustände erhöhen. Die psychosozialen Konsequenzen, wie Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen und im beruflichen Umfeld, verschärfen die Problematik. Eine frühzeitige Erkennung und professionelle Behandlung sind daher unerlässlich, um die schweren Folgen von Anorexia nervosa zu vermeiden und den Betroffenen eine Chance auf Genesung und ein gesundes Leben zu ermöglichen.
Eine Therapie hilft
Eine Therapie kann bei Magersucht lebensverändernd sein. Sie zielt darauf ab, gesunde Essgewohnheiten zu etablieren, das Körperbild positiv zu beeinflussen und zugrunde liegende psychische Probleme zu behandeln. Die Behandlung sollte störungsorientiert sein und die körperlichen Aspekte der Erkrankung umfassen. Die Hauptbehandlungsmethode ist die Psychotherapie, meist begleitet von einer Ernährungstherapie und ggf. medizinischen Betreuung. Die Therapie hilft Betroffenen dabei, ein gesundes Gewicht wiederherzustellen, das Selbstwertgefühl zu stärken und langfristig ein ausgewogenes Verhältnis zum Essen und Körperbild zu entwickeln. Die Einbindung von Familie und Freunden in den Therapieprozess kann zusätzlich helfen, ein unterstützendes Netzwerk für den Genesungsprozess zu schaffen. Um Rückfällen vorzubeugen und die erzielten Fortschritte zu festigen, sind regelmäßige Nachsorge und langfristige Betreuung von entscheidender Bedeutung. Ein früher Therapiebeginn erhöht die Erfolgschancen und trägt dazu bei, schwerwiegende gesundheitliche Folgen zu vermeiden.
Magersucht ist eine ernsthafte Erkrankung, die unbehandelt oft bestehen bleibt und mit der Zeit schwerer zu behandeln wird. Je früher die Behandlung beginnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Genesung. Daher ist es entscheidend, frühzeitig professionelle Hilfe zu suchen und diese in Anspruch zu nehmen. Eine Therapie kann Leben retten.
Hilfe finden
Sich helfen zu lassen, erfordert Mut. Aber es lohnt sich. Je früher, desto besser!
Anlaufstellen
Bei Verdacht auf eine Essstörung kann der erste Schritt der Gang zum Hausarzt, einem Kinder- und Jugendmediziner oder einem Psychotherapeuten sein. Auch der Besuch einer Spezialambulanz für Essstörungen kann hilfreich sein. Falls der direkte Weg zu medizinischen Fachleuten zu herausfordernd erscheint, ist das Aufsuchen einer seriösen Beratungsstelle, die Erfahrung im Umgang mit Essstörungen hat, eine gute Möglichkeit, Unterstützung zu finden.
Telefonisch
Das Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet Erstberatung und Adressvermittlung für Fragen zu Essstörungen. Es ist unter 0221 892031 erreichbar: Montag bis Donnerstag 10:00–22:00 Uhr, Freitag bis Sonntag 10:00–18:00 Uhr. Gesprächskosten entsprechen dem Kölner Ortstarif.
Im Internet
BZgA-Essstoerungen.de: Informationen zu allen Möglichkeiten der Beratung und Behandlung bei Essstörungen – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
ANAD.de: Beratung für Betroffene und Angehörige (Telefonberatung, Online-Beratung, persönliche Beratung) und multidisziplinäre Therapie –ANAD Versorgungszentrums Essstörungen e.V.
NummergegenKummer.de: Anonyme und kostenlose Telefonberatung bei Essstörungen für Kinder, Jugendliche und Eltern – Nummer gegen Kummer e.V.
Bundesfachverbandessstoerungen.de: Überblick freier Therapieplätze in Deutschland – Bundes Fachverband Essstörungen e.V.
KVB.de: Bundesweite Suche nach Ärzten und Psychotherapeuten, online oder über den 116117-Patientenservice – Kassenärztliche Vereinigungen.
Weisse-Liste-de: Bundesweite Suche nach Krankenhäusern, in denen Essstörungen behandelt werden – Bertelsmann Stiftung.